Studieren, Schlichten, Schützen
Projektbeispiel aus Bolivien
Interview mit William Shoaie Baker und Mirna Inturias von der bolivianischen Universität Núr über Frieden, Gerechtigkeit und Klimaschutz – und ihren Studiengang „Transformation sozio-ökologischer Konflikte“, der in Kooperation mit dem Zivilen Friedensdienst (ZFD) auf die Beine gestellt wurde.
Konflikte um Ressourcen, insbesondere Wasser und Land, sind in Bolivien an der Tagesordnung. Sie werden durch die Ausweitung industrieller Landwirtschaft, den Abbau von Bodenschätzen und Infrastrukturmaßnahmen angeheizt. Davon betroffen sind auch einzigartige Ökosysteme wie der tropische Trockenwald Chiquitano, der an den Amazonas-Regenwald grenzt. Die Region hat eine enorme Bedeutung als Kohlenstoffspeicher und Klimastabilisator. Doch sie schrumpft. Oft durch Brandrodung zur Landgewinnung angefacht. Die indigenen Bevölkerungsgruppen werden auf ihrem angestammten Land immer weiter zurückgedrängt. Dabei tragen einige durch ihre Lebensweise erheblich zum Erhalt der Urwälder bei. Der Klimawandel verschärft die Problematik zusätzlich: Die Gefahr großflächiger Waldbrände steigt, so wie 2019, als in Brasilien und Bolivien über Monate Brände wüteten, die allein 3,6 Millionen Hektar Wald in Bolivien zerstörten.
Um auf diese Herausforderungen angemessen reagieren zu können, gibt es an der Universität Núr in Santa Cruz seit 2020 einen postgradualen Diplomstudiengang zur Bearbeitung von Umwelt- und Ressourcenkonflikten. Das Studienangebot ist ein Ergebnis der seit März 2018 bestehenden Kooperation zwischen ZFD und Uni Núr mit dem Ziel, die Bearbeitung der zunehmenden Konflikte mittels Forschung, Ausbildung und Praxis anzukurbeln. Im Interview erläutern William Shoaie Baker, Rektor der Universidad Núr, und die Soziologin Mirna Inturias, Dozentin an der Uni und zugleich lokale ZFD-Fachkraft, warum es den Studiengang braucht, um Frieden, Gerechtigkeit und Klimaschutz zu fördern.
Seit 2020 bieten Sie an der Universität Núr den Postgraduierten-Studiengang „Transformation sozio-ökologischer Konflikte“ an. Was hat Sie dazu bewogen?
William Shoaie Baker: Die gesellschaftlichen und ökologischen Konflikte, die sich in Bolivien beim Thema Land und Landnutzung ergeben, stellen eine große Herausforderung auf dem Weg zu einer friedlichen, inklusiven Gesellschaft dar. Bereits in den 1990er-Jahren hat die Universität daher eine Fakultät für Frieden und Integration geschaffen. Diese Fakultät wiederum hat das erste Zentrum für kommunale Schlichtung in Bolivien ins Leben gerufen, das in den ländlichen Gebieten starke Arbeit geleistet hat. Dann haben wir gemeinsam mit verschiedenen Organisationen, darunter die Fundación UNIR und der BID, mit der Entwicklung von Postgraduiertenprogrammen begonnen. Der Postgraduierten-Studiengang „Transformation sozio-ökologischer Konflikte“ macht sich die Erkenntnisse der früheren Programme sowie eine Reihe an Erfahrungen zunutze, und zwar nicht nur die der Universidad Núr, sondern auch die des ZFD und der anderen beteiligten Organisationen, der University of East Anglia, der Grupo Confluencias und des INDIS-Projekts. Diese Vielfalt an Erkenntnissen wurde in eine akademische Struktur überführt, die es ermöglicht, das Wissen weiterzugeben und zu vertiefen. Darüber hinaus arbeiten die Teilnehmenden in vielen Fällen schon jetzt vor Ort und können ihre Erfahrungen in das Programm einbringen.
Mirna Inturias: Der Studiengang ist das erste Postgraduiertenprogramm in Bolivien, das sich schwerpunktmäßig der Transformation ökologischer Konflikte widmet. Das Ziel ist, Umweltkonflikte aus verschiedenen Blickwinkeln unter Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit in Lateinamerika zu analysieren, um auf die strukturellen Anforderungen reagieren zu können. Die gesellschaftlichen und ökologischen Konflikte in der Region sind in der Regel mit ungleichen Machtverhältnissen, extraktivistischen Entwicklunsgmodellen [Anm. d. Red.: Abbau, Nutzung und Export natürlicher Ressourcen] und anderen Aspekten verknüpft, wodurch sich ihre Analyse und Bearbeitung äußerst komplex gestaltet. Der Studiengang trägt diesen Anforderungen Rechnung. Dabei nutzen wir die Erfahrung aus dem ZFD und zugleich die Erfahrung der regionalen Forschung. Die Ergebnisse unserer Zusammenarbeit sind deshalb so bedeutsam, weil wir Akteurinnen und Akteure aus Forschung und Praxis zusammenbringen. Die gemeinsame Auseinandersetzung ist für die Bearbeitung der sozio-ökologischen Konflikte sehr produktiv. Die Kooperation kann außerdem durch zielgerichtete und strategische Forschung Brücken zur Politik schlagen, um sie beim Thema nachhaltige Nutzung der Ökosysteme stärker einzubinden.
Wie unterstützt der ZFD Sie dabei?
William Shoaie Baker: Die Universidad Núr strebt danach, mit all ihren Aktivitäten zu einer gerechten, friedlichen und harmonischen Gesellschaft beizutragen. Dies passt sehr genau zu dem, was der ZFD für die Förderung von Frieden und Gerechtigkeit leistet. Wir glauben, dass ein Schlüssel zu Frieden und Gerechtigkeit in der Arbeit mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen liegt – in unserem Fall mit der indigenen Bevölkerung, da sie besonders von Umwelt- und Territorialproblemen betroffen ist. Speziell an diesem Punkt arbeiten die Universidad Núr und der ZFD zusammen, um Prozesse aufzubauen, die die gesellschaftliche und ökologische Gerechtigkeit fördern. Der Studiengang „Transformation sozio-ökologischer Konflikte“ ist das zentrale Element der Unterstützung durch den ZFD, da eine Fachkraft bei der Entwicklung mitgearbeitet hat. Auf der einen Seite ist es die fachliche und menschliche Unterstützung und auf der anderen Seite die Vernetzung und die Erfahrung im Zivilen Friedensdienst, die uns die Umsetzung dieses so wesentlichen Studiengangs ermöglicht hat. Inzwischen wirken eine internationale und eine lokale ZFD-Fachkraft mit, also zwei Personen, die den Prozess unterstützen und das Programm durch ihre Motivation, Offenheit und Kompetenz lebendig halten.
In welchem Maße tragen die Folgen des Klimawandels zu einer Veränderung der Konfliktsituation bei?
Mirna Inturias: Wir leben in Bolivien in einer tropischen Zone, die einzigartige Ökosysteme beherbergt, darunter den Chiquitano-Trockenwald. Die Auswirkungen des Klimawandels haben bereits Einfluss auf die Waldbrände in der Region. Diese werden zwar größtenteils durch Brandrodung verursacht, doch der Einfluss des Klimawandels wird im Temperaturanstieg und an den Winden spürbar. Diese Veränderungen führen dazu, dass sich die Waldbrände unkontrollierbarer ausbreiten und diese fragilen Ökosysteme ihnen leichter zum Opfer fallen können, wie 2019 in massivem Ausmaß geschehen. Damals gingen über 3,5 Millionen Hektar Wald in Flammen auf. Somit ist der Klimawandel zweifelsohne ein Faktor, der die Komplexität und das Ausmaß der Konflikte erhöht.
Vor welchen Problemen stehen die indigenen Gemeinschaften im bolivianischen Tiefland und welche Rolle spielen sie im Kampf gegen die Klimakrise?
Mirna Inturias: Es gibt einige indigene Bevölkerungsgruppen, die viel zum Erhalt der heute noch bestehenden bolivianischen Wälder beitragen. In den von ihnen bewohnten Gebieten ist die Entwaldung geringer, es wird mehr Kohlenstoff gespeichert und weniger emittiert, die Biodiversität bleibt erhalten und die Ressourcen werden nachhaltiger und gerechter bewirtschaftet. Doch das Interesse an ihrem Land ist groß. Landwirtschaft und Infrastrukturprojekte beanspruchen immer mehr Flächen für sich, zum Beispiel für Sojaplantagen zur Biokraftstoffproduktion und für Viehweiden für den Rindfleischexport. Dadurch wird der positive Einfluss der indigenen Bevölkerung bei der Begrenzung des Klimawandels immer weiter eingeschränkt. Der Klimawandel führt seinerseits dazu, dass sie ihre Praktiken überdenken und ändern müssen, vor allem beim Gebrauch von Feuer. Der Studiengang „Transformation sozio-ökologischer Konflikte“ setzt vor diesem Hintergrund einen Schwerpunkt auf die Arbeit mit der indigenen Bevölkerung. Viele der Studierenden kommen bei ihrer praktischen Arbeit mit indigenen Bevölkerungsgruppen in Berührung und es nehmen auch indigene Führungspersönlichkeiten am Studium teil.
Weitere Informationen
Mehr über die Bedeutung indigener Gemeinschaften bei der Begrenzung des Klimawandels und über ihre Bedrohung durch um sich greifende Landnahmen in Bolivien lesen Sie in dem 2020 veröffentlichten Artikel Bolivia: contribution of indigenous people to fighting climate change is hanging by a thread von Mirna Inturias (Universidad Núr) und Iokiñe Rodríguez (University of East Anglia).
Die private Universität Núr liegt in Santa Cruz de la Sierra, einem wirtschaftlichen Zentrum Boliviens. Sie wurde 1984 mit dem Ziel gegründet, durch individuelle Kompetenzförderung einen Beitrag zu einer gerechten, friedlichen und harmonischen Gesellschaft zu leisten. Gegenwärtig sind an der Uni mehr als 4.000 Studierende in 35 Grund- und Postgraduierten-Studiengängen eingeschrieben.
Im März 2018 wurde der Kooperationsvertrag zwischen Uni und ZFD unterzeichnet. Binnen zwei Jahren wurden die fachlichen und didaktischen Grundlagen für den Studiengang gelegt. 2020 gingen die ersten Studierenden an den Start. Im Zuge der Corona-Pandemie wurde das Studium zu einem digitalen Angebot umgebaut, wodurch die Reichweite in der zweiten Runde deutlich gestiegen ist. Derzeit nehmen 25 Studierende aus Bolivien, Honduras und Deutschland das Angebot wahr, das von neun Dozentinnen und Dozenten aus Bolivien, Perú, Argentinien, Großbritannien und Deutschland umgesetzt wird.
Im Zuge der Kooperation zwischen Universidad Núr und ZFD wird das Thema Umwelt- und Ressourcenkonflikte am Institut für sozialwissenschaftliche Forschung (Instituto de Investigación Científica Social, IICP) intensiv aufbereitet. Ein erster Meilenstein der Kooperation war das gemeinsam organisierte Forum „Bolivien und seine sozio-ökologischen Herausforderungen“ mit 300 Teilnehmenden im September 2018. In der Folge wurden zwei Fachpublikationen zum Thema veröffentlicht, die vom IICP herausgegeben und unter Mitwirkung weiterer Partnerinnen und Partner entstanden sind und in der Publikationsdatenbank des ZFD zum Download bereitstehen:
- Bolivia. Desafíos socioambientales en las tierras bajas. Mirna Inturias, Kristina von Stosch, Henry Baldelomar & Iokiñe Rodríguez. Februar 2019, 245 S., Spanisch.
- Territorios, justicias y autonomías: un diálogo desde los gobiernos autónomos indígenas de Bolivia. Mirna Inturias, Gonzalo Vargas, Iokiñe Rodríguez, Alberto García, Kristina von Stosch & Elmar Masay. August 2019, 361 S., Spanisch.
Zuletzt wurde außerdem die sehens- und lesenswerte Dokumentation eines gemeinsamen Foto-Projekts veröffentlicht, das mit indigenen Jugendlichen arbeitet, um die Verbundenheit mit ihrem Land, und vor allem mit dem Wald, zu stärken. Darin enthalten sind spannende Portraits von Menschen, die im Trockenwald Chiquitano leben und sich dafür einsetzen, dass dieses einmalige Ökosystem erhalten bleibt. In Kürze erscheint das Buch auch auf Englisch:
FotoVoz: Reconexión Monkoxɨ. Mirna Inturias, Iokine Rodriguez Fernandez, Markus Martinez Burman & Jana Wershoven. Dezember 2021, 118 S., Spanisch.
Aus diesem Buch stammt auch das Foto im Header. Es zeigt drei Frauen im Gespräch über die Bedeutung der Bienen für das Ökosystem. Die Frauenvereinigung Meliponicultoras setzt sich für eine nachhaltige Honignutzung und den Schutz der Bienen ein, da sie durch die Bestäubung der Blüten auch für die Landwirtschaft eine essentielle Rolle einnehmen.
Fotos: Header: Mary Isabel Garcia Parapaino (aus dem Reportagenbuch „FotoVoz: Reconexión Monkoxɨ“, 2021, S.88); Portraits von Mirna Inturias und William Shoaie Baker sowie Fotomontage zum Studiengang: Universidad Núr
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