Ziviler Friedensdienst in der Ukraine

Friedensarbeit wird gebraucht - auch im Krieg

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eine Herausforderung für die ukrainischen Partnerorganisationen des Zivilen Friedensdienstes und für die Fachkräfte des ZFD. Nach einem Jahr Zusammenarbeit unter extremen Bedingungen ist der Austausch intensiver denn je. Der Bedarf an Friedensarbeit steigt – auch in Zeiten eskalierter Gewalt.

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Kurz nach Ausbruch des Kriegs passten die Partner und Fachkräfte des ZFD ihre Arbeit schnell an die neue Lage an. Seit einem Jahr geht es in erster Linie darum, die Zivilgesellschaft bei der Bewältigung der Kriegsfolgen zu unterstützen und den Zusammenhalt aufrecht zu halten. Die ukrainische Zivilgesellschaft ist trotz des Kriegs sehr aktiv. Sie hat viel Verantwortung übernommen. Sie versorgt, vernetzt und begleitet die notleidenden Menschen. Der soziale Zusammenhalt in der Ukraine ist enorm und die zivilgesellschaftlichen Organisationen stärken ihn.

„Wir stehen vor immensen Herausforderungen und bieten humanitäre Hilfe, wo sie am dringendsten benötigt wird. Wir gehen aber auch schon einen Schritt weiter“, sagt Olga Filippova von der ZFD-Partnerorganisation IT Babusi, „wir entwickeln Kunstprojekte, bearbeiten Traumata und dokumentieren das Geschehene. Ohne die zusätzliche Unterstützung hätten wir uns nur auf das Überleben konzentrieren können.“ Die zivilgesellschaftlichen Organisationen brauchen auch weiterhin Support, bei der humanitären Hilfe und bei der Bewältigung der Kriegsfolgen. „Es geht nicht nur um die aktuellen Bedürfnisse, sondern auch um die Zukunft“, bestätigt Dmytro Kovbasyuk von der Organisation Zatsikavleni. „Die Arbeit gibt uns Hoffnung, wir machen Pläne für eine nachhaltige Zukunft.“

Die zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Ukraine müssen den Krieg gut überstehen. Sie werden nicht nur jetzt, sondern auch beim Wiederaufbau und bei der Aufarbeitung der Kriegsfolgen gebraucht. Die ZFD-Fachkräfte stehen in permanentem Austausch mit den lokalen Teams. Sie organisieren Hilfe, entwickeln Trainings, bilden aus, vernetzen und schaffen Synergien mit anderen Akteuren. Sie sind da, wenn ihre am Rande der Erschöpfung arbeitenden ukrainischen Kolleginnen und Kollegen Zuspruch brauchen. Die Zusammenarbeit ist noch viel enger geworden, das Vertrauen ineinander ist groß.

Projekte des ZFD in der Ukraine

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ZFD-Projekte der KURVE Wustrow

Dokumentation und Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen und Traumatisierungen
Nahezu alle Gruppen der ukrainischen Gesellschaft erleben schwere Kriegsverbrechen. Traumatisierungen und Gewalterfahrungen müssen behandelt werden. Als Mitglied der Coalition Justice for Peace in Donbas dokumentiert die Eastern Ukrainian Center for Civic Initiatives (EUCCI) Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Seit Februar 2022 erschienen bereits acht umfassende mehrsprachige Berichte, die die internationale Öffentlichkeit über Kriegsverbrechen in der Ukraine informieren. Die gesammelten Daten können für gerichtliche Aufarbeitungen, beispielsweise am Internationalen Gerichtshof, genutzt werden. Eine aktualisierte Wanderausstellung über die Folgen des Kriegs für Zivilistinnen und Zivilisten wird weiter in der Westukraine präsentiert und dient gleichzeitig als Diskussionsort für Debatten über den Umgang mit der aktuellen Kriegssituation. Anfang 2023 wurde das neue Buch „Unklare Klarheiten“ über Mythen und Vorurteile gegenüber der Ostukraine veröffentlicht. Es behandelt gesellschaftlich brisante Fragen zur künftigen Nachkriegsordnung, zum Umgang mit Kollaboration und zur künftigen Erinnerungsarbeit in der Ukraine.

Stabilisierung der Projektpartner und ihrer Teams - Aufrechterhaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen
In der aktuellen Situation ist es wichtig, die Partnerorganisationen und deren Teams zu stabilisieren, damit die Arbeit unter dem Kriegsstress nicht zusammenbricht. Viele Kolleginnen und Kollegen sind auf der Flucht, im Ausland oder über weite Teile der Ukraine verstreut. ZFD-Fachkräfte bemühen sich darum, dass es regelmäßige Online-Austausche gibt. Sie bieten psychosoziale Unterstützung, um einzelne Mitarbeitende und den Teamgeist zu stärken. Die Partnerorganisation VOSTOK SOS evakuiert Schutzbedürftige aus der Ostukraine, leistet humanitäre Hilfe und bietet psychosoziale Beratung. Im Oktober 2022 schulten VOSTOK SOS und eine ZFD-Fachkraft Aktivistinnen und Aktivisten in Stress- und Traumabewältigung mittels Somatic Experiencing. Das ist ein körperorientierter Ansatz zum Umgang mit Stress und Trauma. Die ausgebildeten Aktivisten und Aktivistinnen setzen das neue Wissen direkt in ihrem Umfeld ein.

Reduktion und Prävention von Gewalt in gesellschaftlichen Konflikten
Gerade jetzt ist die Entwicklung von gemeinsamen Zukunftsperspektiven eine Herausforderung für alle Ukrainerinnen und Ukrainer. Niemand weiß, wie die Nachkriegsgesellschaft aussehen wird. Die in der Platform for Nonviolent Activism zusammengeschlossenen Organisationen AMES, Theater for Change und Network for Responsible People in Kiew und die Organisation Foundation for Community Development in Winniza (vormals Kramatorsk) arbeiten an Konzepten zur Gewaltprävention bei innergesellschaftlichen Konflikten, beispielsweise zwischen Binnengeflüchteten und Aufnahmegemeinden. Kolleginnen und Kollegen von Theater for Change und ukrainische Aktivistinnen und Aktivisten geben Erlebnissen und Emotionen über das Theaterspiel Raum und machen brisante Themen ansprechbar. Die Teams der Plattform bildeten sich in traumainformierter Arbeit und Methoden von Oral History fort. Das ist eine Methode, die auf Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und der Dokumentation ihrer Aussagen beruht. Sie macht es möglich, neben der offiziellen Geschichtsschreibung auch individuellen Erzählweisen Platz zu geben.


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ZFD-Projekte des forumZFD

Nachbarschaftshilfe
Das forumZFD unterstützte bereits vor dem Krieg zivilgesellschaftliches und bürgerschaftliches Engagement. Die ukrainische Nachbarschaftsinitiative Zatsikavleni („Gute Nachbarschaft“) belebte die Tradition der Hinterhöfe von Odessa neu. Sie sind Orte sozialer Interaktion geworden und die Basis für eine starke und widerstandfähige Zivilgesellschaft. Ausgebildete Community-Koordinatorinnen und Koordinatoren (CK) motivierten die Bevölkerung dazu, in ihren Nachbarschaften Verantwortung zu übernehmen. Mit Kriegsbeginn wurde das große Potenzial dieser organisierten Nachbarschaften deutlich: Nothilfe und Unterstützungsangebote kommen dort an, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Die CK kennen die Bedürfnisse ihrer Nachbarschaften. Sie wissen, wo alleinstehende ältere Menschen wohnen, die Hilfe benötigen. In Zusammenarbeit mit dem ZFD versorgen sie über 4.000 Bewohnerinnen und Bewohner mit Lebensnotwendigem, verwandeln Keller in Schutzräume, unterstützen Kinder und Familien und schaffen Möglichkeiten des Austauschs über Sorgen, Ängste und konkrete Hilfen. Weitere Informationen dazu finden Sie auf den Webseiten des ZFD-Trägers forumZFD.

Supervision
Beim Expertise-Netzwerk „Empathy Support“ können sich Menschen Rat und Unterstützung holen, die in sozial-psychologischen Berufen arbeiten. Nach einem Jahr im Kriegszustand ist bei ihnen die persönliche Belastung besonders hoch. Die Angebote des Netzwerks machen sie stark, damit sie anderen weiterhin helfen können und selbst gesund bleiben. ZFD-Fachkräfte und das lokale Team organisieren „Empathie-Cafés“. Das sind Online-Angebote für Menschen, die sich in einem sicheren und moderierten Raum über Probleme, Bedürfnisse und Bewältigungsmechanismen austauschen, Unterstützung anfragen und auch selbst anbieten.

Räume für schwierige Themen öffnen
Das forumZFD arbeitet schon lange mit der Theatergruppe ArtPlayback zusammen. Die kreativen Ansätze des interaktiven Theaters machen es möglich, über schwierige Themen wie
Entfremdung, Identität und Gewalt zu sprechen. Bei den Teilnehmenden stoßen die nicht-konfrontativen Methoden auf positive Resonanz. Niemand fühlt sich verurteilt oder ausgeschlossen. Seit Kriegsbeginn arbeitet das Team daran, den Sorgen der Menschen theaterpädagogisch Raum zu geben: Durch Playback-Theater verarbeiten die Teilnehmenden ihre Ängste, Fluchterfahrungen, Verluste und Schuldgefühle. Die Online- und Offline-Angebote richten sich an Kunst- und Kulturschaffende in und außerhalb der Ukraine. 

Erfahrungen der Kinder im Krieg sichtbar machen
Der Fokus des War Childhood Museum (WCM) liegt darauf, Kriegserfahrungen von Kindern sichtbar zu machen. Bereits vor dem Krieg hat das Team mit Kindern in der Ostukraine gearbeitet und ihre Geschichten in Ausstellungen erzählt. Seit Ende Februar 2022 dokumentiert das WCM die Kriegs- und Fluchterfahrungen von Kindern aus der gesamten Ukraine. Dafür bilden die ZFD-Fachkräfte verschiedene Organisationen in traumasensibler Arbeit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen (Oral History) aus. Es gibt Online-Workshops für Eltern, Lehrkräfte und Medienschaffende zu der Frage, wie man mit Kindern über Krieg sprechen kann. 

Stärkung der Resilienz und des gesellschaftlichen Zusammenhalts in den südlichen Gemeinden der Region Odessa
Die Arbeit mit dem Regional Analytical Center (RAC) förderte bisher eine aktive Bürgerschaft und stärkte Vertrauen zwischen Zivilgesellschaft und lokalen Verwaltungen. Die aktiven Bürgerinnen und Bürger müssen ihre Mitmenschen beim Wiederaufbau der Ukraine künftig
über einen langen Zeitraum zu großen gesellschaftlichen Anstrengungen motivieren. Es wurden lokale Dialog-Initiativgruppen (DIGs) geschaffen, in denen Bedürfnisse diskutiert und mit den zuständigen Kommunalverwaltungen vorangebracht werden. Seit Kriegsbeginn erweisen sich die DIGs als zentrale Anlauf- und Vermittlungsstellen für besonders verletzliche Gruppen (beispielsweise Binnengeflüchtete und ältere Menschen).


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ZFD-Projekte der GIZ

Friedenspädagogik für mehr Widerstandskraft und gegen Stress
Pädagogen und Schulpsychologinnen müssen kriegsverursachten Stress und Traumata bei Kindern und Jugendlichen im Schulalltag auffangen. Für diese Aufgabe entwickeln ZFD-Fachkräfte und die Teams der Partnerorganisationen Trainings und führen Schulungen durch. Sie erarbeiten Materialien und unterbreiten Angebote zur Selbstvorsorge. An der Dnipropetrovsker Akademie für Lehrerfortbildung (DANO) gibt es Trainingskurse für Lehrerinnen und Lehrer und Angestellte zum Umgang mit kriegsverursachtem Stress und Traumata im Unterrichtsalltag. Die Partnerorganisation Power of Future (PoF) spricht vor allem Klassenlehrerinnen und -lehrer mit kreativen Methoden zur Stressbewältigung an. Gleichzeitig werden Supervisionseinheiten für Schulpsychologinnen und -psychologen und Workshops für Erwachsene mit psychologischen Unterstützungsangeboten angeboten.
Der ZFD-Partner EdCamp Ukraine adressiert explizit Schülerinnen und Schüler mit sozialen, ethischen und emotionalen Lerninhalten. Das Institute for Peace and Common Ground (IPCG) in Kiew vermittelt Schülerinnen und Schülern und den Lehrkräften an einigen Pilotschulen Instrumente zur Selbstvorsorge und Resilienz. Zum Schulbeginn erschien das eigens entwickelte Lehrbuch „Good Neighborhood“ für die fünfte Klasse. Es behandelt den Umgang mit Konflikten, Vorurteilen und persönlichen Grenzen. Für das landesweit bekannte Magazin „Piznayko“ für Grundschulkinder werden monatlich mindestens drei Doppelseiten kindgerecht erarbeitet.

Für ein respektvolles Miteinander von Binnengeflüchteten und Menschen in den Aufnahmegemeinden
Bei der Arbeit mit Binnengeflüchteten und Aufnahmegemeinden zählen die Perspektiven beider Gruppen. Geflüchtete erhalten psychologische, soziale und rechtliche Unterstützung und Beratung (siehe Video über die Arbeit mit der Partnerorganisation M.art.in-Klub). Darüber hinaus werden Kommunikation und Koordination mit den Kommunen verstärkt. Gibt es Probleme, so wird die Bevölkerung in die Lösungsfindung einbezogen. Es gibt Schulungen in Mediation, Dialogarbeit und Konfliktsensibilität und berufliche Angebote für die Neuankömmlinge in den Gastgemeinden. Unterstützung erhalten auch Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Diese steigt in Kriegszeiten massiv an. Ziel ist es, allen Bürgerinnen und Bürgern Raum für Austausch und Verarbeitung zu geben, damit sie rasch zu einem Leben in Würde und Menschlichkeit zurückfinden.

Künftige Zusammenarbeit

Training zu gewaltfreiem Handeln in der Ukraine

Der Zivile Friedensdienst unterstützt die ukrainische Zivilgesellschaft auch in Zukunft dabei, die großen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft des Landes zu meistern. Partner und Fachkräfte sehen in folgenden Bereichen Bedarf:

  • Mental Health and Psycho-Social Support (MHPSS): ZFD-Fachkräfte arbeiten bereits jetzt in einem großen Netzwerk von ukrainischen Expertinnen und Experten, die psychosoziale Hilfe für die Teams der Partner und für die Bevölkerung anbieten. MHPSS-Projekte tragen dafür Sorge, dass Menschen wieder handlungsfähig und kollektive Traumata bearbeitet werden. Ganz wichtig wird die Arbeit mit Kriegsveteraninnen und -veteranen. Dazu hat der ZFD Partner mit fundierten Erfahrungen in den Ländern des Westlichen Balkans.
  • Dokumentation von Kriegsgeschichten: Dokumentierte Kriegserfahrungen und Menschenrechtsverletzungen helfen dabei, das Kriegsgeschehen zu verarbeiten. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist Grundlage für gesellschaftlichen Dialog und beugt erneuter Gewalt vor. 
  • Räume für Dialog: In Dialogveranstaltungen brechen vereinfachte Erzählweisen auf. Sie bringen eine Vielfalt von Meinungen zurück. Das ist wichtig für eine stabile Demokratie.
  • Konfliktsensibler Journalismus: Im Krieg spielen Falschnachrichten eine große Rolle. Es ist schwierig herauszufinden, welche Quellen verlässlich und welche Informationen vertrauenswürdig sind. Medien können die Lage eskalieren – oder deeskalieren. Eine faktenbasierte, ausgeglichene Berichterstattung gewinnt Vertrauen zurück. 
  • Kirchliche Friedensarbeit: Perspektivisch bietet sich die Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden und kirchlichen Initiativen an, die bereits zivile Konfliktbearbeitung und interreligiöse Arbeit leisten. ZFD-Träger AGIAMONDO verfügt über gewachsene Kontakte zu entsprechenden Akteuren in der Ukraine und hat mit Partnern mögliche Beiträge kirchlicher Akteure zur Friedensarbeit in der Ukraine vorbereitet.

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Titelfoto: Lewin Bormann/Aachen, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

Weitere Fotos: KURVE Wustrow; EUCCI; Zatsikavleni; Anstasiya Hhrishina