Dem Risiko die Stirn bieten – mit Vielfalt
Projektbeispiel aus Sierra Leone
In Sierra Leone arbeiten über 60 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Viele davon sind auf Selbstversorgung angewiesen. Doch Umweltzerstörung, das Schwinden fruchtbaren Bodens und das Missmanagement von natürlichen Ressourcen machen ihnen das Leben schwer. Die reichhaltigen Ressourcen des Landes kommen vielfach vor allem ausländischen Firmen und einigen wenigen privilegierten Menschen zugute. Die Anliegen und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung werden oft übergangen, zum Beispiel, wenn Land für den Goldabbau oder zur Gewinnung von Bioenergie vereinnahmt wird. Auch die Auswirkungen des Klimawandels machen sich zusehends bemerkbar.
Viele Menschen in Sierra Leone schaffen es nicht, sich darauf einzustellen oder dagegen zu wehren. Schon allein, weil es schwer ist, überhaupt an verlässliche Informationen zu kommen. Oft sind diese auch nicht in den benötigten Sprachen verfügbar. Die sprachliche Vielfalt ist fester Bestandteil der sierra-leonischen Identität. Doch schon bei der Bewältigung der Ebola-Epidemie (2014/15) hat sie sich als Schwachstelle erwiesen. Wenn Informationen nur in der Amtssprache Englisch verfügbar sind, werden nicht alle Menschen erreicht. Eine Alphabetisierungsrate von lediglich knapp über 40 Prozent kommt erschwerend hinzu. Da bleiben viele außen vor. Wenn der Zugang zu Bildung und Information verwehrt ist, sind Beteiligung und Mitsprache kaum möglich.
Auch zur Bewältigung der Klimakrise ist es wichtig, alle Menschen zu erreichen. Zwar wird Sierra Leone aller Voraussicht nach eher moderat von den Folgen des Klimawandels betroffen sein. Doch kleinste Veränderungen reichen aus, um die Existenzgrundlage vieler zu gefährden. Da die Bewältigungskapazitäten im Land – auf staatlicher, gesellschaftlicher und individueller Ebene – desolat sind, münden extreme Wetterereignisse schneller in einer humanitären Katastrophe. Vielen ist das eigene Risiko nur unzureichend bewusst.
Wer um das Risiko weiß, kann sich besser wappnen
Der ZFD und seine Partner setzen sich in Sierra Leone dafür ein, dass niemand außen vor bleibt. Mit einem Projekt zur Katastrophenrisiko-Minimierung („Disaster Risk Reduction“, DRR) werden beispielsweise jene Menschen adressiert, die wenig Einblick in ihre Gefährdungslage und Handlungsoptionen haben. Sei es, weil sie des Englischen nur begrenzt mächtig sind oder weil sie ohnehin benachteiligt und von gesellschaftlicher Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossen sind.
Zusammen mit seiner sierra-leonischen Partnerorganisation YMCASL (Young Men‘s Christian Association Sierra Leone) hat der ZFD das Standardwerk der Vereinten Nationen zur Katastrophenvorsorge in die fünf lokalen Sprachen Kono, Krio, Limba, Mende und Themne übersetzen lassen. Im Oktober 2021 wurde das mehrsprachige Handbuch mit dem Titel Disaster Risk Reduction Terminology veröffentlicht. Das übersetzte Werk erleichtert es den Menschen vor Ort, die Problematik zu verstehen und darauf zu reagieren.
Doch das Projekt hat weit mehr erreicht, wie Pious Mannah von der ZFD-Partnerorganisation YMCA Sierra Leone berichten kann: „Unser gemeinsames Projekt zur Katastrophenvorsorge kam genau zur richtigen Zeit. Wir haben so viel in dieser kurzen Zeitspanne geschafft: Wir konnten die Terminologie zur Katastrophenvorsorge in fünf der meistgesprochenen Sprachen Sierra Leones veröffentlichen. Wir konnten wertvolle Partnerschaften mit wichtigen Akteuren wie der Universität von Sierra Leone, dem UNDP und der Nationalen Agentur für Katastrophenmanagement knüpfen. Und wir haben Jugendgruppen zur Katastrophenvorsorge aufgebaut.“
Wer das Konfliktpotenzial erkennt, kann versuchen es zu entschärfen
Die Zusammenarbeit zwischen ZFD und YMCASL begnügt sich keineswegs mit der Bereitstellung von Informationen. Es geht vielmehr darum, die Menschen damit für die Herausforderungen zu wappnen. Dazu werden Workshops mit gefährdeten Gemeinden in Freetown, Makeni, Lungi, Bo und Kenema veranstaltet. Gemeinsam wird das konkrete Klima- und Katastrophenrisiko ermittelt. Die Auseinandersetzung mit den Risiken stärkt die lokalen Gemeinschaften dabei, sich zu informieren, sich einzumischen und sich angemessen vorzubereiten. Ibrahim Bangura, Mitglied im kommunalen Ausschuss Katastrophenvorsorge der Gemeinde Marbella, kann den Nutzen dieser Arbeit aus eigener Erfahrung bestätigen: „Die Wirkung des Workshops war groß: Im Anschluss haben wir mehrere Aufräumaktionen durchgeführt, und viele Beteiligte sind sogar dem Ausschuss für Katastrophenvorsorge beigetreten.“
Das hierzu entwickelte Instrumentarium PACDR (Participatory Assessment of Climate and Disaster Risks – Partizipative Bewertung von Klima- und Katastrophenrisiken) besteht aus sieben aufeinander aufbauenden Modulen, die die Menschen dazu befähigen, ihre Handlungsmöglichkeiten auszuloten und Maßnahmen in die Wege zu leiten. PACDR wurde von Brot für alle, dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz und von ZFD-Träger Brot für die Welt entwickelt. Die dazugehörige Website pacdr.net erleichtert die Anwendung und trägt zu einem wachsenden Netzwerk von PACDR-Anwenderinnen und -Anwendern sowie Trainerinnen und Trainern bei. Ziel ist es, Klimarisikobewertungen in der Projektplanung für alle vom Klimawandel betroffenen Bereiche zu verankern.
Nur wer Partner an seiner Seite hat, kann sich wehren
In vielen Regionen der Erde werden die Rechte von ohnehin schon benachteiligten Bevölkerungsgruppen mit Füßen getreten. Das wird ihnen auch in Land- und Umweltkonflikten zum Verhängnis. Allerorten steigt der Landbedarf, während zugleich die Fruchtbarkeit des Bodens schwindet. Landraub ist auch in Sierra Leone ein massives Problem. Allein von der nutzbaren Ackerfläche sind über 40 Prozent in den Händen ausländischer Firmen. Hinzu kommen Landnahme und Umweltverschmutzung zum Abbau von Bodenschätzen, vor allem Bauxit, Diamanten, Gold und Eisenerz.
Dass auch Projekte im Namen des Klimaschutzes Teil des Problems sein können, zeigt ein Bioenergie-Projekt in der Makeni-Region in der sierra-leonischen Nordprovinz. Das größte landwirtschaftliche Investitionsprojekt in der Geschichte des Landes brachte zwar kurzfristig Jobs, langfristig aber weit größeren Schaden als Nutzen: Land- und damit Einkommensverlust, massive Umweltverschmutzung und zum Teil auch Vertreibung waren die Folgen. ZFD-Partner SiLNoRF engagiert sich in der Region für eine Entschärfung der Lage und eine Entschädigung der Menschen.
Nur wer umfassend ansetzt, kann nachhaltig wirken
Der Zivile Friedensdienst unterstützt über den ZFD-Träger Brot für die Welt in Sierra Leone eine Reihe von zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Partnerorganisationen. Nachhaltige Friedens- und Umweltarbeit werden dabei an vielen Stellen miteinander verknüpft:
Die ZFD-Partnerorganisation SLADEA ist beispielsweise landesweit in der außerschulischen Bildung aktiv. Jedes Jahr kommen dank SLADEA etwa 1.000 Menschen in den Genuss einer Weiterbildung. In den Kursen wird nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt. Es geht auch darum, Werte zu vermitteln, Feindbilder abzubauen und die Menschen zu befähigen, für ihre Rechte einzutreten. Seit 2002 unterstützen ZFD-Fachkräfte die Organisation durch Fortbildungen in Friedensjournalismus, gewaltfreier Konfliktbearbeitung und Öffentlichkeitsarbeit.
Im Partnernetzwerk SilNoRF (Sierra Leone Network on the Right to Food) bündeln seit 2010 zahleiche zivilgesellschaftliche Organisationen ihr Engagement für Umweltschutz, Ernährungssicherung und Menschrechte. Gleich mehrere ZFD-Partner sind bei SiLNoRF aktiv, darunter CSSL, Culture Radio, MADAM und SLADEA. Die Mitglieder des Netzwerks stärken unter anderem Gemeinden beim Umgang mit Landkonflikten, wie zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Bioenergie-Projekt in der Makeni-Region. Mehr dazu erfahren Sie in unserem Artikel Tank gegen Teller.
ZFD-Partner YMCASL (Young Men's Christian Association Sierra Leone) setzt sich seit Ende des Bürgerkriegs in 2002 mit rund 100 Beschäftigten für die Friedenskonsolidierung im Land ein, insbesondere mit Bildungsangeboten für Jugendliche und junge Erwachsene, aber auch mit Gesundheitsfürsorge und Ernährungssicherung. Bei YMCASL ist auch das oben beschriebene Projekt zur Unterstützung von Gemeinden bei der Bewältigung der Klimakrise angesiedelt.
Weitere Informationen
Aus dem Sprachenprojekt ist die kürzlich gegründete Initiative „Sierra Leonean Association of Language and Mediation“ hervorgegangen. Erstes Projektvorhaben von SLALM: Die Entwicklung einer App, in der die verschiedenen Sprachversionen der DRR-Terminologie enthalten sind, ergänzt um Audiodateien zur Anwendung. „Die App wird dazu beitragen, die Lücken in der Risikokommunikation mit gefährdeten und benachteiligten Gruppen weiter zu schließen,“ sagt Pious Mannah, Katastrophenrisiko- und Sicherheitsbeauftragter bei der ZFD-Partnerorganisation YMCA Sierra Leone. Zusammen mit der ehemaligen ZFD-Fachkraft Jonas Knauerhase hat er die Initiative angestoßen. Auf der Webseite www.slalm.org werden künftig die verschiedenen Dokumente zur Katastrophenvorsorge in Sierra Leone vereint.
Jonas Knauerhase war gut zwei Jahre als Fachkraft des Zivilen Friedensdienstes in Sierra Leone aktiv. Auf seine Arbeit hatte er sich mit einer Masterarbeit über „Sicherheit, Konflikt und internationale Entwicklung“ an der University of Leicester vorbereitet. Außerdem absolvierte er Ausbildungen zum Mediator und zum Friedens- und Konfliktberater. Vor seiner Ausreise wurde er über vier Monate für die Projektarbeit in Sierra Leone geschult. Derzeit ist Jonas Knauerhase als Junior-Spezialist für Sicherheitsrisiko- und Krisenmanagement bei der GIZ tätig.
Text: ZFD-Redaktion unter Mitwirkung von Jonas Knauerhase. Header-Abbildung: Collage unter Verwendung eines Ausschnitts des Buchcovers zum Handbuch „Disaster Risk Reduction Terminology. Translations in Kono, Krio, Limba, Mende and Themne“ (2021, 294 S., Hrsg.: Centre for Translation Studies, University College London, Illustration: AMBERPRESS Gosia Warrink) und den im Handbuch enthaltenen Übersetzungen für die Devise „Build back better“
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