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Ukraine: Wie Frauen einander Halt geben

Ein aromatischer Duft erfüllt den Raum. Rund zwanzig Frauen haben es sich hier gemütlich gemacht, um an der Teezeremonie teilzunehmen. Es ist Januar 2024 in Odessa. Tee trinken und Yoga-Übungen in Kriegszeiten? Dass das kein Widerspruch sein muss, zeigt ein Projekt des ZFD-Trägers forumZFD in der Ukraine: Die kreativen Methoden der Friedensarbeit mit allen Sinnen helfen insbesondere Frauen dabei, Kraft zu schöpfen und für andere da zu sein.

Die Hafenstadt Odessa im Süden der Ukraine ist seit jeher bekannt für ihre Schwarzmeerstrände, Nachtclubs und ihren stolzen Charakter. Erst vor wenigen Tagen wurde die Stadt mitten in der Nacht von mehreren Raketen getroffen – wieder einmal. Mehr als zwei Jahre sind nun schon vergangen, seit Russland begonnen hat, die gesamte Ukraine anzugreifen. Etliche Gebäude wurden seitdem in Odessa getroffen. 34 Zivilist*innen starben und mehr als 100 wurden verletzt.

„Letzten Sommer hatten wir schwere Schäden durch die Angriffe. Das war der Zeitpunkt, zu dem ich das Bedürfnis gespürt habe, an diesem Projekt teilzunehmen“, sagt Valentyna. Sie ist eine der Teilnehmerinnen einer Selbsthilfegruppe, die von dem lokalen Netzwerk „Kidfriendly“ in Odessa angeboten wird. Die Empathie-Selbsthilfegruppe wurde im August 2022 ins Leben gerufen, nur wenige Monate nach dem russischen Angriff. Auch wenn einige Landesteile stärker vom Krieg betroffen sind als andere, gibt es in der Ukraine doch niemanden, der davon unberührt bleibt. Neben den ganz normalen Alltagssorgen wie Konflikten in der Familie oder im Beruf – das Leben geht ja schließlich weiter – sehen sich die Menschen mit neuen Problemen konfrontiert: Viele haben geliebte Menschen oder ihr Zuhause verloren. Häuser und Wohnungen wurden zerstört, ganze Städte besetzt. Der Krieg reißt Familien auseinander, sowohl über Ländergrenzen hinweg als auch innerhalb der Ukraine.

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Konflikte, die bereits vorher bestanden, verschärfen sich

Nach Angaben des ukrainischen Sozialministeriums sind fünf Millionen Menschen innerhalb des Landes geflohen. Und während viele Männer an der Front kämpfen, bleiben die Frauen oft mit den Kindern zurück und müssen die Familien allein versorgen. Nach zwei kräftezehrenden Jahren ist die Gesellschaft verwundbar. Der ukrainische Gesundheitsminister erklärte, mindestens die Hälfte der Bevölkerung benötige psychologische Hilfe. Manchmal scheint die schiere Masse an Problemen zu groß, um sie zu bewältigen. Konflikte, die bereits vorher bestanden, verschärfen sich, und neue entstehen – sowohl auf individueller Ebene als auch in der Gesellschaft insgesamt. 

So verbreiten sich zum Beispiel Hass und gewalttätige Inhalte immer schneller im Internet und Menschen geraten in Streit darüber, wer am stärksten vom Krieg betroffen ist und am meisten Opfer bringt. „Die Erfahrungen, die die Menschen in diesem Krieg machen, sind sehr unterschiedlich“, sagt Ada Hakobyan vom Ukraine-Team des forumZFD. „Alle haben ihre eigenen Geschichten, ihre eigenen Traumata.“ Dies könne zu Reibereien führen, zum Beispiel zwischen denjenigen, die das Land verlassen haben, und denen, die geblieben sind. Oder auch zwischen jenen, die innerhalb des Landes geflohen sind, und ihren neuen Nachbar*innen.

Kreative Methoden für alle Sinne

Mittlerweile führt Kidfriendly zwei Projekte für Eltern in Odessa durch. Das erste heißt „ZEN“. Es hilft den Teilnehmenden, ihre Gefühle besser zu verstehen und innerlich Kraft zu schöpfen. „Einige Frauen erzählten mir, wie sie durch die Stadt liefen und dabei das Gefühl hatten, überhaupt nicht mehr zu existieren“, sagt Tanya Drut, Projektkoordinatorin von Kidfriendly. „Im Krieg kann man leicht den Boden unter den Füßen verlieren. Für manche Menschen hat sich das Leben völlig verändert. Viele müssen erst einmal wieder zu sich selbst finden. Zu den Methoden gehören Yoga, Tanz, Massagen, Schreibübungen, Gesang und Teezeremonien.“ Das Hauptziel der Übungen sei es, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem die Teilnehmenden ihre Emotionen ausdrücken und sich selbst und anderen zuhören können. 

Geflüchteten das Ankommen erleichtern

Etwa zwei Drittel der Teilnehmerinnen sind neu in Odessa. Sie sind aus ihren Heimatorten geflohen, weil diese besetzt wurden oder zu nahe an der Front liegen. Aber auch einige Frauen aus Odessa nehmen an dem Projekt teil, was den Geflüchteten das Ankommen erleichtert.

Das zweite Projekt, das Kidfriendly mit Unterstützung des forumZFD umsetzt, ist die Empathie-Selbsthilfegruppe. „Sie ist als zweite Stufe gedacht für diejenigen, die mit ZEN ihre innere Stärke gefunden haben“, erklärt Tanya Drut. „Denn man muss zuerst offen für sich selbst sein, bevor man für andere da sein kann.“ Die Gruppe trifft sich einmal wöchentlich. In diesem geschützten Raum sprechen die Frauen über das, was sie gerade bewegt – ohne dafür verurteilt oder gar angefeindet zu werden.

Kidfriendly bildet auch die Moderator*innen seiner großen Online-Community aus, um Streit und Hass im Netz entgegenzuwirken. Dank der Schulungen gelingt es dem Team, auch online Räume für konstruktiven Dialog zu schaffen, selbst über kontroverse und sensible Themen.

„Solche Orte, wo Menschen unterschiedliche Meinungen äußern und akzeptieren können, sind in Zeiten des Krieges unerlässlich“, sagt Ada Hakobyan. „Nur wenn sie sich gehört und wertgeschätzt fühlen, können sie auch anderen Empathie entgegenbringen.“ Sie ist sich sicher: Nur wenn Menschen – nicht nur in der Ukraine – inneren Frieden finden, können sie aktiv werden und letztlich zu einem friedlichen Zusammenleben in der Gesellschaft beitragen. 


Der Text stammt von der freiberuflichen Journalistin Yevheniia Sobolyeva (Kiew) und ist zuerst auf den Seiten des forumZFD erschienen. Für unsere Webseite wurde er gekürzt und leicht angepasst.

Fotos: Kidfriendly