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Ukraine: Unterstützung durch Empathie

Das Netzwerk „Empathy Ukraine“ bietet emotionale Unterstützung an, die viele Menschen in der Ukraine derzeit dringend brauchen. Die Psychologin Olena Melnyk, eine langjährige Partnerin des ZFD-Trägers forumZFD in Odessa, hat das Netzwerk mitgegründet. Im Gespräch erzählt sie, wie Empathie in der aktuellen Situation helfen kann und warum sie auch jetzt noch an gewaltfreie Methoden glaubt.

Für Menschen aus der Ukraine war das vergangene Jahr in vielerlei Hinsicht extrem herausfordernd, auch emotional. Welche Gefühle haben deiner Beobachtung nach dominiert?

Olena Melnyk: Die Menschen reagieren ganz unterschiedlich auf den Krieg. In der gewaltfreien Kommunikation unterscheiden wir nicht zwischen positiven und negativen Emotionen. Alle unsere Gefühle sind wichtig. Sie sind Ausdruck von Bedürfnissen, die erfüllt sind – oder eben auch nicht. Wenn wir tiefer blicken, verstehen wir, warum die Menschen diese Gefühle haben. Krieg ist eine Krisensituation. Das lässt viel Zorn und Hass entstehen. Aber wenn wir diesen Emotionen auf den Grund gehen, erkennen wir, dass dahinter Bedürfnisse und Werte stecken wie Liebe, Würde, Sicherheit, Leben und Freiheit. Wie können wir diese Bedürfnisse und Werte in Zeiten des Krieges verteidigen? Wenn wir uns ihrer bewusst werden, gibt uns das Kraft und die Fähigkeit zu handeln.

Manche Menschen fühlen sich allein mit ihren Ängsten und ihrem Verlust. In dieser Situation hilft es ihnen, wenn sie wissen: Es gibt einen Ort, wo ich immer willkommen bin, wo ich akzeptiert werde und wo niemand mich verurteilt. Wenn die Menschen diese kleinen Inseln der Wärme und Verbundenheit finden, dann gibt ihnen das Hoffnung. Bereits vor dem russischen Angriff haben meine Kolleginnen und Kollegen aus der Community der gewaltfreien Kommunikation und ich sogenannte Empathie-Kreise organisiert. In den ersten Monaten nach dem Einmarsch haben wir diese Kreise jeden Tag angeboten.

Gemeinsam mit deinen Kolleginnen und Kollegen hast du bereits vor einiger Zeit das Netzwerk „Empathy Ukraine“ gegründet, welches emotionale Unterstützung anbietet. Wie ist die Idee dazu ursprünglich entstanden?

Olena Melnyk: Ich habe das Netzwerk zusammen mit Angela Starovoytova und Artem Sivak gegründet, die beide ebenfalls Expertin bzw. Experte in gewaltfreier Kommunikation sind. Zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 hatten wir die Idee, die Menschen in dieser Krise emotional zu unterstützen. Wir hatten bereits zuvor Trainings in gewaltfreier Kommunikation in Odessa angeboten. Das neue Netzwerk bot eine Chance, noch mehr Menschen miteinander in Verbindung zu bringen, die überall in der Ukraine an diesem Thema arbeiten.

Wir bezeichnen uns selbst als „Gemeinschaft der Praktizierenden“, da es bei gewaltfreier Kommunikation nicht so sehr um die Theorie oder um Fachwissen geht – vielmehr ist es eine Art zu Denken und zu Handeln. 25 Personen sind dem Netzwerk beigetreten. Die Strukturen, die wir aufgebaut und die Erfahrungen, die wir während der Pandemie gesammelt haben, sind in der jetzigen Situation enorm hilfreich.

An wen richtet sich das Projekt und wie genau laufen die Treffen in den Empathie-Kreisen ab?

Olena Melnyk: Alle unsere Teilnehmenden sind Ukrainerinnen und Ukrainer. Manche sind im Land, andere sind außerhalb. Einige leben in besetzten Gebieten oder in Regionen, wo gekämpft wird. Wir bieten sowohl Einzel- als auch Gruppentreffen an.

In den Einzeltreffen geht es hauptsächlich ums Zuhören. Die Teilnehmenden erzählen ihre Geschichte und nach einer Weile fragen wir, ob wir das Gehörte in unseren Worten wiedergeben oder eine Frage stellen dürfen. Wir achten immer darauf, dass die Teilnehmenden die Richtung des Gesprächs vorgeben. Indem wir eine Verbindung zu ihnen aufbauen und sorgfältig zuhören, verstehen wir ihre erfüllten und unerfüllten Bedürfnisse. Wenn die Teilnehmenden dazu bereit sind, können wir ihnen auch spiegeln, was ihre Geschichte in uns auslöst.

Die Gruppentreffen nennen wir „Empathie-Cafés“. Hier hören die Teilnehmenden einander zu und teilen ihre Geschichten mit der Gruppe. Diese Treffen finden zweimal pro Woche statt und es nehmen normalerweise etwa zehn bis zwanzig Personen teil. Zweimal im Jahr veranstalten wir außerdem ein „Festival für Empathie“. Das ist ein ganzer Monat, in dem wir zusammenkommen und uns über Methoden der gewaltfreien Kommunikation austauschen, zum Beispiel über Selbstfürsorge. Ein weiteres Format sind die „Trauerkreise“. Dieses Thema ist momentan besonders wichtig, da viele Menschen Verlust erleben. Die Trauerkreise geben ihnen die Möglichkeit, darüber zu sprechen.

Finden alle diese Formate online statt?

Olena Melnyk: Ja, fast alles ist online, da unsere Teilnehmenden an vielen verschiedenen Orten sind. In manchen Situationen hatten wir aber auch schon Treffen vor Ort. Einmal saß zum Beispiel einer unserer Kollegen während eines Raketenangriffs mit 250 Menschen in einem Schutzbunker fest. Er hat dann dort Gesprächskreise organisiert, um mithilfe von Empathie den Menschen beizustehen. Andere Kolleginnen und Kollegen, die aktuell nicht in der Ukraine sind, arbeiten beispielsweise in Unterkünften für Menschen aus der Ukraine.

Welche Themen bringen die Menschen in die Treffen mit?

Olena Melnyk: Man könnte meinen, dass sich alles um den Krieg dreht, in dem wir uns befinden. Das stimmt auch teilweise, aber tatsächlich beschäftigen die Menschen auch andere Dinge. Der Krieg öffnet viele alte Wunden. Da geht es zum Beispiel um Beziehungen in der Familie oder am Arbeitsplatz. Das Leben geht weiter, sogar im Krieg.

Welchen Raum gibt es in einem Land im Krieg noch für Gewaltlosigkeit und gewaltfreie Kommunikation?

Olena Melnyk: Gewaltfreiheit ist in der aktuellen Situation sehr wichtig, denn dabei geht es nicht nur um Selbstfürsorge und Empathie – sondern auch um die Kraft sich zu verteidigen, Entscheidungen zu treffen, ehrlich zu sein, Verantwortung zu übernehmen und andere in Entscheidungsfindungen einzubeziehen. Mithilfe der gewaltfreien Kommunikation können Menschen einander verstehen und versuchen, gemeinsam Lösungen zu finden.

Ein Beispiel: In einem anderen Projekt mit dem forumZFD arbeiten wir in den Innenhöfen von Odessa. Wir wurden gebeten, die Kommunikation in den Nachbarschaften zu verbessern. Also haben wir Gesprächskreise organisiert, in denen die Anwohnerinnen und Anwohner strittige Fragen besprechen konnten. In solchen Situationen ist gewaltfreie Kommunikation sehr hilfreich – denn wenn unser Kopf voller Emotionen ist, können wir nicht klar denken. Wenn wir jedoch unsere Gefühle akzeptieren, dann ist unser Verstand in der Lage, neue Ideen und Lösungen zu generieren.

Welche Projekte schweben dir für die Zukunft vor?

Olena Melnyk: Wir haben sehr viele Ideen. Zuallererst wollen wir natürlich unsere Empathie-Arbeit fortsetzen und das Netzwerk weiter vergrößern, denn aktuell brauchen viele Menschen diese Art der Unterstützung. Ich möchte gern auch mehr mit Kindern arbeiten. Hier ist der Bedarf sehr groß, da viele Kinder durch den Krieg traumatisiert sind.

Eine weitere Idee ist, mit Lehrkräften zu arbeiten. Gemeinsam mit dem ZFD haben wir schon in der Vergangenheit mit Schulen gearbeitet und die Lehrkräfte waren sehr dankbar für das Angebot, sich in den Methoden der gewaltfreien Kommunikation fortzubilden. Ich denke, wir sollten diese Arbeit fortsetzen, denn die Lehrkräfte leisten gerade Unglaubliches – zuerst in der Pandemie und selbst jetzt im Krieg unterrichten sie weiter, sogar wenn der Strom ausfällt, mal online, mal offline. Und das, obwohl die Mittel für Bildung gekürzt wurden. Es braucht eine große persönliche Stärke, um diese Arbeit zu leisten, und ich denke, wir sollten Lehrkräfte so gut wie möglich unterstützen.

Außerdem sollten wir meiner Meinung nach Mittel und Wege finden, um Soldatinnen und Soldaten, Veteraninnen und Veteranen und ihre Familien zu unterstützen. Krieg ist eine unmenschliche Prüfung für die Psyche, in der die Menschen alle ihre Kräfte mobilisieren müssen, um zu überleben. Die ständige Lebensgefahr verursacht enormen Stress. Deshalb ist es wichtig, dass die Gesellschaft sich um ihre Kämpfenden kümmert und ihnen hilft, mit den Folgen ihrer traumatischen Erlebnisse umzugehen. Das wird uns als Gesellschaft helfen, schneller zum Frieden zurückzukehren.


Das Interview mit Olena Melnyk wurde von Hannah Sanders geführt. In voller Länge können Sie das Interview auf den Seiten des forumZFD lesen.

Foto: forumZFD

Mehr zum Netzwerk „Empathy Ukraine“  erfahren Sie auf der Webseite der Initiative

Weitere Beispiele dafür, wie die Friedensarbeit in Kriegszeiten weitergeht, lesen Sie in unserem Themenschwerpunkt Ziviler Friedensdienst in der Ukraine.