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Ukraine: Theater verbindet Kunst und Friedensarbeit

Friedensarbeit wirkt – auch in Zeiten eskalierender Gewalt in der Ukraine. Möglich werden die friedensstiftenden Bemühungen des ZFD durch die enge langjährige Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft vor Ort. Diese gilt es nun zu stärken, damit sie den Krieg übersteht. Denn eine vielfältige und lebendige Zivilgesellschaft spielt eine entscheidende Rolle für den Wideraufbau der ukrainischen Gesellschaft als Ganzes und für einen gerechten und nachhaltigen Frieden.

Heute stellen wir eine solche zivilgesellschaftliche Initiative vor: Das Projekt „Träumen und Handeln: Heilen mit Kunst“. Es arbeitet unter anderem mit Playback-Theater, einer Form der Improvisationskunst. Sie kann Menschen in Krisensituationen dabei helfen, innere Kraft aufzubauen und traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. In der Ukraine hat der ZFD-Träger forumZFD 2022 seine Arbeit mit Theaterschaffenden durch eine neue Partnerschaft ausgebaut: Das Projekt ermöglicht es den Teilnehmenden, sich online zu treffen ­– von innerhalb und außerhalb der Ukraine. Sie erzählen ihre Geschichten und träumen von einer friedlicheren Zukunft. Im Interview erzählt der ukrainische Künstler Andrey Utenkov aus Odessa, was Kunst und Friedensarbeit verbindet.

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Herr Utenkov, gemeinsam mit dem ZFD und Ihrem Kollegen Marat Mairovich führen Sie zurzeit das Projekt „Träumen und Handeln: Heilen mit Kunst“ durch. Hier setzen Sie Playback-Theater als Methode der Friedensarbeit ein. Wie ist das Projekt entstanden?

Andrey Utenkov: Mein Kollege Marat und ich hatten bereits in den vergangenen Jahren mit Online-Playback-Theater gearbeitet. Nach dem 24. Februar 2022 haben wir begonnen, noch regelmäßigere Treffen anzubieten. Gemeinsam mit dem ZFD haben wir das Konzept für „Träumen und Handeln“ entwickelt. Wie der Titel schon sagt: Wir träumen und dann versuchen wir, etwas Neues zu tun. Das ist eine sehr einfache Idee, aber für mich hat sie eine tiefgreifende Bedeutung, insbesondere für uns Ukrainerinnen und Ukrainer in der derzeitigen Situation. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat in den neunziger Jahren das Konzept der Räume für Qualitätskommunikation entwickelt: Wir begegnen einander und daraus entsteht etwas Neues. In diesen Räumen drängen wir die Menschen nicht in eine Richtung und wir erwarten auch nichts Besonderes von ihnen. Wir akzeptieren einander einfach so, wie wir sind. Unser Projekt beruht auf dieser Idee.

Wie genau sehen diese Online-Treffen aus?

Andrey Utenkov: Innerhalb des Projekts bieten wir zwei Formate an. Das erste heißt „Anderthalb Räume im Krieg“. Die Treffen sind zweigeteilt. Als erstes haben wir immer einen oder mehrere Gäste, zum Beispiel interessante Redner, Musikerinnen oder Playback-Theatergruppen. Anschließend geht es ans Theaterspielen: Jemand aus dem Publikum erzählt eine Geschichte und die Schauspielerinnen und Schauspieler verwandeln das Gehörte in eine kurze künstlerische Darbietung. Das kann ein kurzes Theaterstück sein oder eine andere kreative Ausdrucksform, etwa ein Gedicht. Manchmal machen wir aus der Geschichte ein Lied und wir malen sie sogar. Wir haben begonnen, mit verschiedenen Ausdrucksformen zu experimentieren, die wir bisher nicht in unserer Playback-Praxis verwendet hatten.

Das zweite Format heißt „Playback Club“. In diesen Treffen spielen wir kein Theater. Es ist eher ein Training oder ein Diskussionsclub. Die Gruppe ist kleiner mit maximal zehn Personen, da es ein sehr persönlicher Austausch ist. Manche der Teilnehmenden kommen aus der Playback-Community, aber nicht alle. Die Treffen stehen allen Interessierten offen.

Wie wählen Sie die Themen für die Online-Treffen aus?

Andrey Utenkov: Die Themen sind immer unterschiedlich. Wir versuchen uns einzufühlen in das, was die Leute gerade bewegt und welche Themen sie interessieren könnten. Im Format, „Anderthalb Räume im Krieg“ hatten wir zum Beispiel Gäste, die über emotionale und psychische Gesundheit gesprochen oder Tipps zum Umgang mit Informationen und Propaganda gegeben haben. In manchen Treffen meditieren wir auch einfach. Manchmal laden wir internationale Theaterschaffende ein, ihr Wissen mit der Gruppe zu teilen, zum Beispiel wie die Techniken von Clowns dabei helfen können, mit Krisensituationen umzugehen. Einmal hatten wir ehemalige Playback-Schauspielerinnen und -Schauspieler zu Besuch, die jetzt in der Armee dienen. Auch in dem zweiten Format, dem „Playback Club“, haben wir jede Woche ein anderes Thema. Wir haben zum Beispiel darüber gesprochen, wie wir in unserem persönlichen Umfeld mit Konflikten umgehen und wie wir unsere innere Stärke bewahren oder zurückgewinnen können.

Welche Arten von Geschichten erzählen die Teilnehmenden im Playback-Theater?

Andrey Utenkov: In vielen Geschichten geht es um schwierige Entscheidungen: Soll ich in meiner Heimatstadt bleiben oder weggehen? Soll ich im Ausland bleiben oder zurück in die Ukraine gehen? In anderen Geschichten geht es darum, wie Menschen sich selbst verlieren und wiederfinden. Und dann gibt es viele Geschichten über Anpassung, sowohl in der Ukraine als auch im Ausland. Beobachtungen, wie sich unsere Leben verändern. In einer der letzten Sitzungen hat beispielsweise eine Frau erzählt, wie sehr sie den Blick aus ihrem Fenster im Herbst vermisst. Sie kommt ursprünglich aus Dnipro und lebt nun in Kalifornien, wo immer Sommer ist.

Wie ist die Atmosphäre in diesen Treffen?

Andrey Utenkov: Ich denke, die Teilnehmenden empfinden einen starken Zusammenhalt, ein „Wir-Gefühl“. Es ist fast, als würden wir zuhause am Tisch zusammensitzen. Die Regelmäßigkeit der Treffen vermittelt Stabilität und Sicherheit: Viele Teilnehmende kommen jede Woche und sie wissen, was sie erwartet. Marat und ich nutzen die Methoden des Playback-Theaters, um einen Raum zu schaffen, in dem sich die Leute sicher und gehört fühlen. Natürlich sind einige der Geschichten sehr schwierig oder handeln sogar von Traumata. Aber die Teilnehmenden haben das Gefühl, dass sie darüber sprechen können. Und wenn dann die Schauspielerinnen und Schauspieler mit ihrer Performance beginnen, kann es passieren, dass sich das Trauma wie von Zauberhand in ein Kunstwerk verwandelt.

Wie wichtig ist die Unterstützung des ZFD für das Projekt?

Andrey Utenkov: Zunächst einmal ist es wichtig, dass der ZFD auf uns aufmerksam geworden ist. Das zeigt die Anerkennung für unsere Arbeit und gibt uns das Gefühl, dass wir international vernetzt sind. Die finanzielle Unterstützung ist ebenfalls sehr wichtig, denn sie ermöglicht es mir, mich voll und ganz auf dieses Projekt und auf andere Kunstformen zu konzentrieren. Ich muss nicht parallel nach anderen Jobs suchen. Was wir am ZFD sehr schätzen, ist, dass sie uns nicht in diese oder jene Richtung drängen – sie vertrauen uns, dass wir unseren eigenen Weg gehen.


Das Interview wurde geführt von Hannah Sanders und ist zuerst erschienen auf den Seiten des forumZFD. Für unsere Website wurde es gekürzt und leicht überarbeitet. Die Bilder vom Playback-Theater oben und von Andrey Utenkov stammen ebenfalls vom forumZFD.

Methode Playback-Theater

Playback-Theater ist eine Form des Improvisationstheaters. Entwickelt wurde diese Methode in den 1970er Jahren von dem US-Amerikaner Jonathan Fox und dem Neuseeländer Jo Salas. Zunächst erzählt eine Person aus dem Publikum ein persönliches Erlebnis. Anschließend setzen die Schauspielerinnen und Schauspieler diese Geschichte in Szene. Playback-Theater kann in der Friedensarbeit eingesetzt werden, zum Beispiel um in Konfliktsituationen Perspektivwechsel zu ermöglichen. Mehr über Theaterarbeit lesen Sie auch in unserem Beitrag „Bühne frei für Theaterarbeit“.

Ziviler Friedensdienst in der Ukraine

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eine Herausforderung für die ukrainischen Partnerorganisationen des Zivilen Friedensdienstes und für die Fachkräfte des ZFD. Nach einem Jahr Zusammenarbeit unter extremen Bedingungen ist der Austausch intensiver denn je. Der Bedarf an Friedensarbeit steigt – auch in Zeiten eskalierter Gewalt. Mehr über die aktuelle Arbeit des ZFD in der Ukraine lesen Sie in hier.