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Serbien: „Aufgeben ist keine Option“

Sofija Todorović wuchs in Belgrad auf, studierte Rechtswissenschaften und ist heute Programmdirektorin der Jugendinitiative für Menschenrechte in Serbien. Als Aktivistin setzt sie sich für die Aufarbeitung der Kriege und Kriegsverbrechen der 1990er Jahre ein. Im Gespräch berichtet sie über die Erfolge ihrer Initiative und den Gegenwind, mit dem Friedens- und Menschenrechtsgruppen aktuell in Serbien kämpfen.

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Wie sah Ihr Weg zur Menschenrechtsaktivistin aus?

Sofija Todorović: Ich war sieben Jahre alt während des NATO-Bombardements und ich erinnere mich an jeden einzelnen Tag. Ich musste mich in einem Keller verstecken. Als ich erwachsen wurde, war ich überzeugt: Der Kosovo gehört zu Serbien. Sie haben es uns weggenommen. 

Mit 22 Jahren kam ich zum ersten Mal mit der Jugendinitiative für Menschenrechte in Kontakt, weil sie sich gegen die Gewalt gegen Frauen einsetzte. Ich habe ein paar Workshops besucht. Dort ging es um Themen, die mich schon immer interessierten, über die ich aber weder in der Schule noch an der Universität etwas gelernt hatte. Denn wir haben immer noch Politiker, die an den Kriegen beteiligt waren. Wir haben sie immer noch in unseren Institutionen, so dass wir nie irgendeine Art von Aufklärung betrieben haben, die uns helfen würde, ein neues Kapitel aufzuschlagen. 

Für mich gab es also eine Menge Dinge zu entdecken. Vieles musste ich wieder verlernen. Heute bin ich zutiefst überzeugt: Um eine blühende, demokratische und friedliche Zukunft in diesem Land aufzubauen, müssen wir uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen.

Könnten Sie Ihre Organisation vorstellen?

Sofija Todorović: Die Jugendinitiative für Menschenrechte wurde im Jahr 2003 gegründet. In diesem Jahr ist der serbische Premierminister Zoran Đinđić ermordet worden. Das war der Zeitpunkt, zu dem eine Gruppe junger Menschen beschloss, dass sie nicht einfach zusehen werden, wie die anderen über ihre Zukunft entscheiden. Man bedenke, es waren nur vier Jahre, nachdem der Krieg im Kosovo mit der Bombardierung Serbiens zu Ende gegangen war. In diesen vier Jahren wurde vieles unter den Teppich gekehrt, vieles wurde geleugnet und viele Dinge, die wir immer noch nicht über die Geschehnisse während des Krieges wussten, wurden vertuscht.  Anfangs war es eine Gruppe junger Menschen in der serbischen Hauptstadt Belgrad, die überzeugt waren, dass Frieden in Serbien ohne unsere Nachbar*innen nicht möglich ist. Bei einem der ersten Projekte der Initiative ging es darum, Menschen aus dem Kosovo und Serbien zusammenzubringen und über heikle Themen wie den Krieg zu sprechen. 

Heute erstreckt sich unsere Arbeit auf die gesamte Region mit Büros im Kosovo, in Bosnien und Herzegowina, in Kroatien und in Montenegro. Wir agieren als regionales Netzwerk, in dem wir Verbindungen zwischen jungen Menschen in der ganzen Region aufbauen und über die Dinge sprechen, die uns voneinander trennen. 

Wir glauben, dass die Demokratie in jedem einzelnen Land des westlichen Balkans ohne eine Aufarbeitung der Vergangenheit unvollkommen ist.

Letztes Jahr wurde die Initiative 20 Jahre alt. Worauf sind Sie besonders stolz? 

Sofija Todorović: Am meisten sind wir auf die vielen jungen Menschen stolz, die an unseren Aktionen teilgenommen haben. Sie alle setzen sich für dieselben Werte ein, und ich denke, das ist etwas sehr Wertvolles und erfordert oft Mut. Wenn man in Serbien sagt, dass im Kosovo Kriegsverbrechen verübt wurden, wird man als Verräter beschimpft und erhält vielleicht sogar Morddrohungen. 

Sie können also auch heute noch nicht über die Kriegsverbrechen der 1990er Jahre sprechen?

Sofija Todorović: In den letzten Jahren erleben wir, wie serbische Kriegsverbrecher, die ihre Strafe verbüßt haben, nachdem sie vor dem Internationalen Strafgerichtshof verurteilt wurden, nach ihrer Rückkehr aus dem Gefängnis in Serbien als wahre Helden begrüßt werden. Es gibt Kriegsverbrecher, die in den akademischen Einrichtungen in Serbien Vorträge halten, sie sind ständig im Fernsehen präsent.

Wie sieht Ihre Zusammenarbeit mit den Teams des ZFD in der Region aus? 

Sofija Todorović: Hier in Serbien gibt es eine Kultur der Verleugnung des Völkermordes von Srebrenica. Und in gemeinsamen Projekten mit dem forumZFD stellen wir uns dem entgegen. Wir organisieren das Gedenken an den Völkermord von Srebrenica in Belgrad. Letztes Jahr haben uns die Mütter der Opfer von Srebrenica die für die Gedenkzeremonie gesammelten Schals geschickt als Beweis für den Völkermord und Zeichen des Friedens und im Auftrag des „Nie wieder“. Für mich war das wirklich eine besondere und emotionale Geste des Vertrauens seitens der bosnischen Frauen. 

Wie müssen wir uns die aktuelle Situation in Serbien nach den Wahlen im Dezember vorstellen?

Sofija Todorović: Dies ist der größte Wahlbetrug, der in Serbien seit mehr als 20 Jahren stattgefunden hat. Nach den Schießereien im vergangenen Mai hat die Opposition eine Koalition gegen Gewalt gebildet und sie haben unter schwierigen Bedingungen erstaunliche Ergebnisse erzielt. 

Die Situation in Serbien ist alarmierend. Die Möglichkeiten für eine Kultur des Dialogs, für jede Art von Debatte oder von Respekt für Andersdenkende werden immer weiter eingeschränkt. Wir erleben das zum Beispiel bei unserem Festival „Miredita - Dobar dan“, einem weiteren Kooperationsprojekt mit dem forumZFD, bei dem wir Kultur und Kunst aus dem Kosovo in Belgrad präsentieren. Letztes Mal mussten 300 Polizeibeamte die Veranstaltung sichern, und rechtsextreme Gruppen protestierten dagegen. Es sah so aus, als ob das gesamte Stadtzentrum belagert würde.

Worum geht es bei diesem Festival?

Sofija Todorović: Der Titel bedeutet „Guten Tag“ auf Albanisch und auf Serbisch. Es ist ein Festival der Begegnung zwischen Serbien und dem Kosovo. In einem Jahr präsentieren wir die zeitgenössische Kulturszene des Kosovo in Belgrad. Im nächsten Jahr gehen wir nach Pristina und präsentieren dort die alternative serbische Kulturszene.

Glauben Sie angesichts der Atmosphäre in Serbien, dass Sie das Festival dieses Jahr dort ausrichten können? 

Sofija Todorović: Wir werden nicht aufgeben. Das ist keine Option. Wir müssen an der kulturellen Zusammenarbeit festhalten. Wir müssen Verbindungen zwischen den Menschen schaffen. Wir müssen den Menschen in Serbien zeigen, wie das Leben im Kosovo aussieht. 

Was wünschen Sie sich von der EU in Bezug auf den westlichen Balkan? 

Sofija Todorović: Ich würde mir wirklich wünschen, dass die EU eine kritischere Haltung gegenüber der serbischen Regierung einnimmt und die proeuropäischen Stimmen stärker unterstützt. Wir arbeiten in einem sehr feindlichen Umfeld, also erwarten Sie nicht zu viel von uns. Die EU muss den Bürger*innen Serbiens wirklich zeigen, dass sie da ist, um ihnen zu helfen und ihren demokratischen Willen zu verteidigen. 

Und wenn ich mir die Beziehungen zwischen Kroatien und Serbien anschaue, dann haben wir gelernt, dass wir die Vergangenheit nicht aus dem Verhandlungsprozess über die EU-Mitgliedschaft ausschließen können. Ich bin mir also sicher, dass wir mehr Anstrengungen in den Frieden investieren müssen. Europa wurde im Wesentlichen als Friedensprojekt aufgebaut. Ich denke, dass dies auch der Weg ist, den die Staaten des westlichen Balkan einschlagen sollten, um Teil der EU zu werden.


Das Gespräch führte Christoph Bongard. Dieses Interview ist zuerst auf den Seiten des forumZFD erschienen und wurde für unsere Webseite leicht gekürzt und angepasst. 

Fotos: Porträtfoto Sofija Todorović: privat  / Foto von einer Gedenkveranstaltung  zum Völkermord in Srebrenica der Jugendinitiative für Menschenrechte in Belgrad: forumZFD

Mehr zur Arbeit des ZFD in den Ländern des Westlichen Balkans erfahren Sie auch in unserer Projektdatenbank: Aus der Vergangenheit in die Zukunft: Erinnern für den Frieden, Bildung für die Zukunft und Erfolgsmodell: Dialog und Bildung werben wirksam für Verständigung. Mehr zur Jugendinitiative für Menschenrechte: Youth Initiative for Human Rights.