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Ukraine: Nachbarschaftshilfe in Hinterhöfen

Im historischen Odessa waren die Innenhöfe der Dreh- und Angelpunkt des täglichen Lebens. In dieser multikulturellen Umgebung kannten die Menschen ihre Nachbarinnen und Nachbarn und in den Höfen war nicht selten der Klang verschiedener Sprachen zu hören. Dann jedoch veränderten der Zweite Weltkrieg und die Sowjetzeit das soziale Gefüge der Stadt und trugen zu einem Gefühl der Entfremdung bei. Mit Unterstützung des ZFD-Trägers forumZFD hat die zivilgesellschaftliche Organisation „Zatsikavleni“ ein Projekt zur Stärkung der lokalen Gemeinschaften ins Leben gerufen: Sie werden unterstützt, ihre Innenhöfe in offene und inklusive Orte der Begegnung umzuwandeln. Wie wichtig dieses Engagement gerade in den aktuellen Kriegszeiten ist, erzählt Dmytro Kovbasyuk von „Zatsikavleni“.

Herr Kovbasyuk, Odessa war immer eine sehr multikulturelle Stadt. Welche Rolle spielen dabei die Innenhöfe der Wohnblöcke?

Sie können sich Odessa als ein Spiegelbild der Ukraine im Kleinen vorstellen: Unser Land ist seit vielen Jahrhunderten Heimat für viele verschiedene Nationalitäten und Religionen. Wenn wir uns die Mikroebene der Gesellschaft anschauen, finden wir diese Multikulturalität in den Innenhöfen wieder. Zum Beispiel haben hier alle Menschen gemeinsam die verschiedenen religiösen Feste gefeiert, von jüdischen Feiertagen bis hin zum christlichen Osterfest. Es ist manchmal schwierig zu erfassen, was „sozialer Zusammenhalt“ eigentlich bedeutet, aber wenn Sie die Innenhöfe besuchen, dann wird dieses Gefühl greifbar. Jetzt, während des Krieges, begegnen Sie dort zum Beispiel Nachbarinnen und Nachbarn, die Brot für die Menschen backen oder dringend benötigte Medizin verteilen. Oder einen Elektriker, der bei Bedarf die Lichter repariert. Oder auch die Besitzerinnen des Kellers im Innenhof: Sie haben einfach Schlüssel für alle anfertigen lassen und gesagt, „nutzt die Räume jederzeit!“ Das ist es, was sozialen Zusammenhalt wirklich ausmacht.

Bereits seit einigen Jahren setzt sich Ihre Organisation „Zatsikavleni“ dafür ein, die Tradition der Innenhöfe als Orte der Begegnung wiederzubeleben. Mit Unterstützung des ZFD haben Sie unter anderem ein Netzwerk von lokalen Nachbarschafts-Aktivistinnen und Aktivisten aufgebaut. Was hat Sie dazu bewegt, dieses Programm 2019 ins Leben zu rufen?

Wir haben begonnen, die Tradition der Hofgemeinschaften neu zu beleben. Angefangen haben wir mit ganz kleinen Schritten, damit die Menschen sich in den Innenhöfen einfach besser kennenlernen konnten. Seit 2019 haben mittlerweile 43 Hofgemeinschaften an unserem Programm teilgenommen. Nach und nach haben die Teilnehmenden angefangen, gemeinsam Träume für die Zukunft der Innenhöfe zu entwickeln und über die Identität ihrer lokalen Gemeinschaft nachzudenken.

Wie haben Sie und Ihr Team Ihre Arbeit auf die aktuelle Ausnahmesituation angepasst?

Die Absolventinnen und Absolventen unserer „Schule der Nachbarschaftskultur“ kümmern sich um ihre Innenhöfe, entweder als offizielle Vorsteherinnen und Vorsteher oder in inoffiziellen Rollen. Sie kennen ihre Nachbarschaft und die Bedürfnisse der Menschen vor Ort ganz genau: Sie wissen, wer Lebensmittel oder Medikamente benötigt, oder wo jemand wohnt, der einfach ein Gegenüber zum Reden braucht. Das ermöglicht es uns, sehr zielgerichtet zu helfen. Niemand von uns hatte vorher Erfahrung mit humanitärer Nothilfe, diese Arbeit ist neu für uns. Deshalb mussten wir zuerst einmal ein System ausarbeiten um sicherzustellen, dass wir bestmöglich auf die Bedürfnisse der Menschen reagieren können.

Welche Form der Unterstützung wird zurzeit am dringendsten benötigt?

Unser Hauptaugenmerk liegt aktuell darauf, die Grundbedürfnisse abzudecken. Dazu gehören zum Beispiel Behälter mit Trinkwasser für den Fall, dass wir von der Wasserversorgung abgeschnitten werden, sowie ein Grundstock an haltbaren Lebensmitteln. Und nicht zuletzt brauchen die Menschen sichere Orte für die Nächte und in Notfällen. Es gibt die Bunker der Stadt, aber die sind für die meisten Nachbarschaften einfach zu weit entfernt. Deshalb bauen wir Kellerräume zu Bunkern um und statten sie entsprechend aus. Wir wollen auch eine Spielecke für die Kinder einrichten, denn manchmal müssen die Menschen viele Stunden lang in diesen kalten, staubigen Betonräumen hocken und wir wollen es für die Kinder ein bisschen gemütlicher machen.

Gibt es etwas, dass Ihnen persönlich hilft, durch diese schwierige Zeit zu kommen?

Humor hilft auf jeden Fall! Für mich persönlich ist es außerdem sehr wichtig zu wissen, dass meine Frau und meine Tochter nun sicher in Deutschland sind. Es gibt ein kurzes Gedicht von einem belarussischen Autor, Dmitry Strotsev, das sich ungefähr so übersetzen lässt: „Die Zukunft wird aus den ukrainischen Kellern kommen und im hellen Sonnenlicht blinzeln.“ Das hat mich sehr berührt.


Das Interview führten Ada Hakobyan und Hannah Sanders am 14. April 2022. In voller Länge ist das Interview auf der Website des forumZFD zu lesen. Mehr über das Nachbarschaftsprojekt in Odessa lesen Sie beim forumZFD und auf unserer Website.

Das Foto zeigt einen Eindruck vom „Ersten Festival der Innenhöfe von Odessa“ 2019 und stammt von der ZFD-Partnerorganisation „Zatsikavleni“.