Kolumbien – Welche Geschichte prägt das Land?
Kurzer Überblick über 50 Jahre Gewaltkonflikt
1948
Der liberale Präsidentschaftskandidat Jorge Eliecer Gaitán wird ermordet; die seit den 30er-Jahren zunehmende Spannung zwischen Anhängerinnen und Anhängern der traditionellen konservativen und liberalen Partei entlädt sich. Eine Welle brutaler Gewalt, die „violencia“ (bis 1957), überzieht Kolumbien. Man geht von mehr als 200.000 Todesopfern aus, die Zahl der vertriebenen Bäuerinnen und Bauern wird auf eine Million geschätzt.
1953 – 1957
General Gustavo Rojas Pinilla übernimmt die Macht, es handelt sich um einen unblutigen Staatsstreich mit Unterstützung namhafter Politiker, darunter einige Expräsidenten. Rojas gelingt es nicht, der Gewalt ein Ende zu bereiten; seine Regierung ist gekennzeichnet von Korruption und Vetternwirtschaft.
1958 – 1974
Nach dem Pakt von Benidorm (Spanien 1956, zwischen dem Konservativen Laureano Gómez und dem Liberalen Alfonso López Pumarejo) installieren die dominierenden Kräfte der traditionellen Parteien die „Nationale Front“ („Frente Nacional“). Unabhängig vom Ausgang der Wahlen werden alle Staatsämter paritätisch von beiden Parteien besetzt, die Präsidentschaft wechselt entsprechend. Alle anderen politischen Kräfte, auch aus den eigenen Parteien, bleiben ausgeschlossen.
1964
Aufständische Bäuerinnen und Bauern, bewaffnete Gruppen mit Verbindung zur kommunistischen Partei aus den Tagen der „violencia“, gründen die Guerilla der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, später mit dem Zusatz EP [Ejército del Pueblo] – Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens [Volksheer]). Linke Ideologie, der Erfolg der „kubanischen Revolution“ (1959) und nicht erfüllte Versprechungen hinsichtlich der Zuweisung von Land tragen zur Entstehung der FARC bei.
Wenig später kommt es zur Gründung des ELN (Ejercito Nacional de Liberación – Nationales Befreiungsheer), der zweitgrößten Guerilla-Bewegung Kolumbiens. In ihr sammeln sich intellektuelle Linke, Kommunistinnen und Idealisten, darunter solche mit kirchlichem Hintergrund (Camilo Torres, Manuel Pérez), die sich dem Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und politischen Ausschluss verschrieben haben.
1970
Es ist bis heute nicht endgültig geklärt, ob es bei der Präsidentschaftswahl tatsächlich zum Betrug kam. Für die Anhänger des Generals Rojas Pinillas war dies jedoch der Anlass, die Guerillabewegung M-19 (Movimiento 19 – Bewegung 19; denn die Wahlen fanden am 19. April 1970 statt) zu gründen, die eher sozialdemokratische Idealvorstellungen verfolgte.
70er-Jahre
Ausgehend von kleinkriminellen Aktivitäten entwickelt sich der Drogenhandel immer mehr zu einem einflussreichen Faktor im soziopolitischen Gefüge Kolumbiens. Zu Beginn der 80er-Jahre organisieren das Medellín-Kartell und etwa zeitgleich das Kartell von Cali den Drogenhandel; Kolumbien wird zum weltweit führenden Kokain-Exporteur.
1985
Die Drogenkartelle bieten der Regierung an, sämtliche Auslandsschulden Kolumbiens zu begleichen, wenn sie auf die Auslieferung der Drogenbarone an die USA verzichtet. Die M-19 besetzt den Justizpalast im Zentrum Bogotás. Ohne Autorisierung durch den Präsidenten stürmen die Streitkräfte das Gebäude. Mehrere Personen verschwinden, erst heute wird nach und nach ihr Schicksal aufgeklärt. Die Stadt Armero wird von einer Lawine in Folge eines Vulkanausbruchs zerstört (mehr als 20.000 Tote). Angehörige der seit 1984 als legaler Arm der FARC agierenden Partei „Unión Patriótica“ (UP – Patriotische Union) werden systematisch verfolgt und ermordet (deutlich mehr als 3.000 Personen).
1990 – 1991
Nach Verhandlungen mit der Bewegung M-19 (in deren Folge diese demobilisiert wird) und nach Forderungen aus dem studentischen Milieu sprechen sich bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 86 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung aus. Sie tritt Ende 1990 zusammen, und die bis heute geltende Verfassung wird im Juli 1991 in Kraft gesetzt.
1993 – 1995
Pablo Escobar, der Chef des Medellín-Kartells, wird getötet. Die Brüder Rodriguez Orujuela, Anführer des Cali-Kartells, werden Mitte 1995 verhaftet. Trotz des Niedergangs der großen Verbrecher-Syndikate gehen Kokain-Anbau und Drogenhandel bis heute weiter.
1994:
Die internationale Sektion des ZFD-Trägers Peace Brigades International (pbi) beginnt - noch vor der Gründung des ZFD - in Kolumbien mit der Schutzbegleitung von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern.
1997
Bereits 1965 und 1968 wurden gesetzliche Grundlagen für das Entstehen von Grupos de Autodefensa (Selbstverteidigungsgruppen) geschaffen, die rasch zu paramilitärischen Verbänden mutieren. Mit dem Aufkommen des Drogenhandels durchdringen sich die Gruppen gegenseitig. 1997 schließen sich paramilitärische Verbände zu den AUC (Autodefensas Unidas de Colombia – Vereinigte Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens) zusammen. Wie die verschiedenen Guerillagruppen finanzieren sich auch die Paramilitärs zu großen Teilen aus illegalem Drogen- und Rohstoffhandel, Erpressungen und Schutzgeldern.
1998
Präsident Andrés Pastrana gesteht der FARC eine „staatsfreie Zone“ (bekannt als „Caguán) zu, etwa so groß wie die Schweiz, um über einen Friedensschluss mit dieser Guerilla-Gruppe zu verhandeln. Trotz (vielleicht auch wegen?) hoher Medienpräsenz mit sensationellen Bildern vom Verhandlungstisch scheitern die Gespräche. Im Frühjahr 2002 ist die FARC militärisch so stark wie nie zuvor.
2001:
Die seit Anfang der 60er-Jahre im Rahmen der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit in Kolumbien tätige katholische Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe e. V. (AGEH) nimmt mit sechs Fachkräften ihr ZFD-Engagement im Land auf.
2002
Nach dem Scheitern der Verhandlungen verspricht Präsidentschaftskandidat Álvaro Uribe, mit harter Hand militärisch gegen die Guerilla vorzugehen. Er wird mit absoluter Mehrheit im ersten Wahlgang zum neuen Präsidenten Kolumbiens gewählt und verfolgt eine Politik der „Seguridad Democrática“ (Demokratische Sicherheit, Eigenbezeichnung Uribes).
2005
Gleichzeitig beginnt Uribe Verhandlungen mit den Paramilitärs und schließt mit ihnen das Abkommen von Santafe de Ralito (Juli 2003; dazu Amnestie-Gesetz 975 von 2005). Auf dessen Grundlage erfolgt die Demobilisierung dieser Gruppen. Dieser Prozess wird von zivilgesellschaftlicher Seite häufig als unbefriedigend angesehen, da innerhalb weniger Jahre neue bewaffnete Gruppierungen entstehen, bei denen eine Unterscheidung zu kriminellen Banden oft nur noch schwer möglich ist.
2012
Der mit Unterstützung von Uribe ins Präsidentenamt gelangte Juan Manuel Santos geht auf Distanz zur Politik seines Vorgängers, was ihm bis heute dessen erbitterte Feindschaft einträgt. Im Geheimen begonnene Vorhandlungen führen im August 2016 zum „Acuerdo Final para la Terminación del Conflicto y la Construcción de una Paz Estable y Duradera“ (Abschlussabkommen über die Beendigung des Konflikts und den Aufbau eines stabilen und dauerhaften Friedens), in dem Inhalte und Verfahrensweise eines Friedensabkommens festgelegt sind. Die Verhandlungen beginnen im November in Havanna auf Kuba.
2013
Das staatlich eingerichtete nationale Zentrum der geschichtlichen Erinnerung (Centro Nacional de la Memoria Histórica) veröffentlicht mit dem Buch ¡Basta ya! („Schluss jetzt!“) eine umfassende Sammlung von Erinnerungen der Opfer und von Dokumentationen der Gewalt des seit über fünfzig Jahre andauernden Konfliktes.
2016
Am 26. September unterzeichnen für die kolumbianische Regierung Präsident Santos und für die FARC Guerillachef „Timochenko“ (Alias von Rodrigo Londoño) das Friedensabkommen. Im Volksentscheid vom 2. Oktober verweigert eine knappe Mehrheit der Kolumbianerinnen und Kolumbianer dem Abkommen die Zustimmung.
Präsident Santos wird am 7. Oktober mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Das Abkommen wird nachverhandelt und nicht mehr einem Volksentscheid unterzogen, sondern am 30. November vom Parlament gebilligt und tritt am 1. Dezember in Kraft.
2017
Am 7. Februar werden endlich die fast ein Jahr zuvor vereinbarten Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der ELN-Guerilla in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito aufgenommen. Während die Zahl der Toten infolge bewaffneter Auseinandersetzungen massiv gesunken ist, wächst die Zahl der Morde an Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, Führungskräften indigener und afrokolumbianischer Gemeinschaften sowie Opferverbänden und von Verteidigerinnen und Verteidigern von Menschenrechten beängstigend an. Die Zahl der amtlich registrierten Opfer des gesamten Gewaltkonfliktes beläuft sich mittlerweile auf mehr als 8,5 Millionen Personen, darunter über 7,5 Millionen Vertriebene (Juli 2017).
Entgegen anderer Befürchtungen liegt der Prozentsatz der Dissidenten auf Seiten der FARC (der Guerilleros und Guerilleras, die sich nicht demobilisieren lassen wollen), deutlich unter zehn Prozent. Bei der Umsetzung des Abkommens beweist die FARC ansonsten Vertragstreue. Die Zentralregierung hat trotz der Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft und von Kirche und Zivilgesellschaft insbesondere in den Regionen Schwierigkeiten, ihre Verpflichtungen zu erfüllen.
Das ZFD-Engagement ist mittlerweile auf über 20 Fachkräfte angewachsen, um die Unterstützung des Friedensprozesses von kirchlicher und zivilgesellschaftlicher Seite zu fördern.
2018
Es stehen Wahlen zum Parlament und zum Amt des Präsidenten an – der Ausgang dieser Wahlen wird entscheidend für den weiteren Friedensprozess sein.
Autor: Stephan Miethke, ZFD-Fachkraft in Kolumbien
Foto: Bogotá 1868, Alphons Stübel (Wikimedia Commons / Alphons Stübel)