Mammutaufgabe
Neuanfang nach dem bewaffneten Konflikt
Nach Jahrzehnten der Gewalt steht die Bevölkerung in Kolumbien vor großen Herausforderungen. Viele Menschen sind traumatisiert. Das soziale Gefüge ist aus den Angeln geraten. Konfliktursachen wurden noch nicht behoben, bewaffnete Gruppen sind weiter am Werk. Ein Neuanfang fällt so schwer.
Viele Kolumbianerinnen und Kolumbianer schweben zwischen Hoffnung und Angst. Sie versuchen, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Dazu brauchen sie Unterstützung. Geduld, Fingerspitzengefühl und Fachwissen sind gefragt – damit das Zusammenleben gelingt und erneute Gewalt keine Chance hat.
„Es ist nicht möglich, Frieden zu erreichen, wenn die Menschen nicht auf ihr Land zurück können“, ruft Sandra Patricia Valencia Tapias (Foto oben) bei einer Veranstaltung zum Friedensabkommen in den Raum. Die 41-Jährige wurde im Januar 1996 endgültig aus der Gemeinde „El 18“ vertrieben. Sie verließ ihre Heimat, weil eine befreundete Restaurantbesitzerin in der Ansiedlung „El 20“ von Paramilitärs brutal ermordet wurde. Auch Sandra Tapias verkaufte erfolgreich „Pasteles“ (ein typisches Reisgericht in Bananenblättern) an Transitreisende. Wie fast alle Bewohnerinnen und Bewohner der „trocha“ wurden die Frauen seit längerem wegen angeblicher Unterstützung der Guerilla massiv bedroht. Kein Jahr später wurde Sandra Tapias friedfertiger Vater, der als Wächter einer Antennenanlage in der trocha arbeitete, von Paramilitärs bestialisch enthauptet. Ihren Bruder ermordete man nach der Flucht in ein anderes Bundesland zwei Jahre später. Er wagte es, Gerechtigkeit für den Mord an seinem Vater zu fordern. Die Behörden setzten ihn ohne Beisein der Familie in einem anonymen Grab bei.
Chocó: Schwerer Neuanfang in einer umkämpften Region
Während Tapias Abwesenheit besiedelte eine indigene Gemeinschaft das Land – auch sie auf der Flucht vor der Gewalt. Sandra Tapias will zurückkehren, aber die Gemeinde weigert sich, das Land zu verlassen. Wie Tapias geht es vielen Kolumbianerinnen und Kolumbianern: 15 Prozent der Bevölkerung mussten aufgrund der Kämpfe zwischen Militär, Paramilitär und Guerilla ihr Zuhause verlassen. Besonders den Chocó traf es hart: Knapp 39 Prozent der Bevölkerung sind als Geflüchtete registriert. Bis heute halten die Konflikte um Land an. Natürliche Ressourcen und die günstige strategische Lage machen das Gebiet zu einer umkämpften Region. Ein friedliches Zusammenleben ist so schwer, egal wie viele Friedensabkommen in der Hauptstadt unterzeichnet werden.
Nur langfristige Friedensarbeit löst das Misstrauen
„Wenn wir es heute mit Landkonflikten zu tun haben, spielt immer die Vergangenheit eine Rolle. Fast jede Familie war hier von der Gewalt der letzten 25 Jahre betroffen. Das hat Angst, Misstrauen und eine hohe Gewaltbereitschaft gesät“, sagt ZFD-Fachkraft Michaela Pfister. Bei akuten Konflikten vermitteln heute die Diözese Quibdó und die interethnische Kommission, bevor es zu Gewalt kommt. Es wird mit allen Beteiligten analysiert und verhandelt – bis friedliche Auswege in Sicht sind. Das Klima des Misstrauens kann nur durch langfristige Friedensarbeit verändert werden. Friedliches Zusammenleben ist möglich, wenn verfeindete Gruppen wieder miteinander reden und sich vergeben können – und wenn sie wissen, wie sie ihre Konflikte künftig gewaltfrei regeln. „Teilweise sind schmerzhafte Schritte nötig, beispielsweise, wenn ehemalige Kämpferinnen und Kämpfer wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden sollen“, erläutert Michaela Pfister, „Erstaunlich ist, dass die Opfer die größte Bereitschaft zeigen, aufeinander zuzugehen. Sie wünschen sich für ihre Kinder und Enkel eine friedliche Gesellschaft“.
„Es hängt von jedem einzelnen ab, ob das Leben künftig friedlich gestaltet werden kann“
Oft müssen tiefe Gräben überwunden werden. „Wir helfen, das Geschehene zu verarbeiten, damit die Menschen wieder Vertrauen zueinander fassen“, sagt Michaela Pfister. „Wichtig ist, dass sich alle als Teil eines längeren Friedensprozesses begreifen. Es hängt von jedem einzelnen ab, ob das gesellschaftliche Leben künftig friedlich gestaltet werden kann.“ Die ZFD-Partner begleiten die Betroffenen auf diesem schwierigen Weg. Dies geschieht zum Beispiel durch Angebote zur Traumabewältigung, durch Trainings in friedlicher Konfliktlösung, Weiterbildungen in Landfragen und den spezifischen Rechten einzelner Volksgruppen, Veranstaltungen zum Friedensprozess, zur politischen Teilhabe und Lobbyarbeit.
Für Sandra Tapias sind diese Angebote hilfreich. „Die meiste Zeit meines Lebens war einfach nur hart. Erst die Vertreibung, dann die Ermordung meiner engsten Familienmitglieder und das Leben als Vertriebene in Quibdó. Es waren Zeiten, in denen wir nichts zu essen hatten und uns verstecken mussten. Bis heute hat sich keiner aus meiner Familie wirklich davon erholt“, sagt sie. Dennoch hat die 41-Jährige nie aufgegeben. „Ich bin seit vielen Jahren in der Organisationsarbeit aktiv, habe gelernt, meine Rechte einzufordern und auch den tiefsten Schmerz zu verarbeiten“, erzählt sie. „Wir haben als Opferorganisation ADACHO schon viel versucht, aber der Streit mit den Indigenen in meiner Heimatgemeinde wurde immer nur größer. Die Angebote der Kommission haben mir endlich die Hoffnung auf mein kleines Häuschen in meinem Dorf zurückgegeben. Durch sie habe ich gelernt, auch die andere Seite zu verstehen, zuzuhören, die territorialen Konflikte der „trocha“ insgesamt anders wahrzunehmen. Vor allem durch die persönlichen Kontakte mit Indigenen und Mestizen ist bei mir viel passiert. Beim interethnischen Treffen war ich zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder in meiner Heimatgemeinde und habe sogar den Konflikt öffentlich dargestellt – ohne zu verurteilen, aber vor allem, ohne weinen zu müssen.“
Fotos: AGEH