Corona-Pandemie: Risiken nicht genderneutral
19.5.2020
COVID-19 bedroht uns alle. Doch die Risiken sind nicht gleich verteilt. Das zeigt nicht nur der Vergleich zwischen Ländern. Auch innerhalb eines Landes gibt es gravierende Unterschiede. In Nepal beispielsweise sind Frauen einem weit größeren Risiko ausgesetzt als Männer. „Die Auswirkungen der Pandemie sind nicht geschlechtsneutral", weiß Lily Thapa, Gründerin der ZFD-Partnerorganisation WHR zu berichten. Daher verstärkt die Organisation „Women for Human Rights“ ihre Kräfte in der Krise.
„Frauen insgesamt, vor allem aber alleinerziehende und alleinstehende Frauen sind besonders gefährdet. In dieser katastrophalen Zeit brauchen sie mehr denn je unsere Unterstützung”, erläutert Lily Thapa die Gefährdung alleinerziehender Frauen. „Da sie ohne verlässliche Informationen zuhause isoliert sind, mit einer finsteren Einkommenssituation, sind sie nicht in der Lage, ihre Rechte einzufordern. Da sie ihre Familie allein ernähren, überwiegend im informellen Sektor arbeiten und nur über unzureichende Ersparnisse verfügen, oft sogar verschuldet sind, machen sie harte Zeiten durch. Sie sind enormem Druck ausgesetzt. Alleinstehende Frauen und ihre Kinder laufen Gefahr, ausgebeutet zu werden. Und sie laufen Gefahr, soziale Ausgrenzung und geschlechtsspezifische Gewalt zu erleiden. Sie sind derzeit einem weit größeren Risiko ausgesetzt als Männer. Daher sind Schutzmaßnahmen erforderlich.“
„Women for Human Rights” (WHR) hat umgehend auf das Auftreten von COVID-19 reagiert. Eigentlich setzt sich die Nichtregierungsorganisation für eine gesellschaftliche, wie auch rechtliche Besserstellung alleinstehender Frauen sowie von Konflikt und Gewalt betroffenen Frauen ein. Seit der Gründung im Jahr 1994 hat WHR ein breites Netzwerk mit mehr als 2.000 Frauengruppen in 77 Distrikten mit über 100.000 Mitgliedern aufgebaut, sodass betroffene Frauen selbst in den abgelegensten Regionen Nepals unterstützt und beraten werden können. Durch ihr Fürsprache auf nationaler Ebene hat WHR dazu beigetragen, dass zahlreiche Gesetze, die alleinstehende Frauen diskriminierten, reformiert wurden. Mit Ausbruch der Corona-Pandemie hat WHR die Arbeit angepasst und informiert fortan auch über die gesundheitliche Gefährdung des Virus und erforderliche Schutzmaßnahmen. Zielgruppe der Sensibilisierungskampagnen sind nicht nur alleinerziehende und alleinstehende sowie von Konflikt und Gewalt betroffene Frauen, sondern auch die lokalen Entscheiderinnen und Entscheider, um sicherzustellen, dass besonders gefährdete Frauen nicht aus dem Raster fallen. Dikshya Singh Rathour, lokale Fachkraft des ZFD bei WHR, weiß um deren Risiko: „In Nepal fehlt es alleinstehenden Frauen oft an wichtigen Dokumenten wie einem Pass oder Wählerausweis. Dadurch besteht die Gefahr, dass sie bei der Verteilung von Hilfsgütern und von den Hilfspaketen, die die nepalesische Regierung angekündigt hat, nicht berücksichtigt werden.“
Um alleinerziehende und alleinstehende Frauen, in Nepal sind dies überwiegend verwitwete Frauen, in dieser akuten Notsituation aufzufangen, leistet WHR neben dem eigentlichen Advocacy- und Beratungsschwerpunkt derzeit auch humanitäre Hilfe. In mehreren Regionen des Landes verteilen WHR-Gruppen eigeninitiativ mit Unterstützung der Gemeinden und private Spenden Nahrungsmittel an die am stärksten gefährdeten Frauen. Mit Stand vom 16.05.20 konnten bereits mehr als 40.000 Mahlzeiten verteilt werden. Bei dieser Gelegenheit werden die Frauen auch dahingehend beraten, wie sie die akute Not bewältigen und wie sie darüber hinaus ihre Position stärken können. Zugleich intensiviert WHR die Fürsprachearbeit auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Auf lokaler Ebene hat WHR nun dokumentiert, welche alleinstehenden Frauen im informellen Sektor arbeiten. Auf diese Weise kann besser gewährleistet werden, dass sie von den Hilfsmaßnahmen der lokalen Verwaltung berücksichtigt werden. Die WHR-Frauengruppen haben zudem ein Auge darauf, dass die Hilfe auch tatsächlich bei den Bedürftigen ankommt.
Darüber hinaus arbeitet WHR eng mit den Lokalregierungen zusammengearbeitet, um die Sicherheit von Frauen während der Ausgangssperre zu gewährleisten und ihnen im Krankheitsfall separate Quarantänemöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. In zehn Distrikten hat WHR die eigenen Schutzräume (die sogenannten Chhahari, vergleichbar mit Frauenhäusern) mit insgesamt 365 Quarantäne-Betten bereitgestellt. Dass die Sicherheitsfrage noch dringlicher als zuvor ist, dafür gibt es zahlreiche Hinweise: „Das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen ist seit Inkrafttreten des Lockdowns zur Eindämmung von COVID-19 höchst alarmierend“, weiß Lily Thapa. „Das wird durch verschiedene Quellen, Medienberichte, Erhebungen und öffentliche Stellen belegt.“ Die studierte Sozialarbeiterin fürchtet außerdem, dass Diskriminierung und Ungerechtigkeit während und durch die Pandemie zunehmen könnten. Die unzureichende medizinische Versorgung und Ausstattung würden schlimmstenfalls dazu führen, dass manche Gruppen bei der Behandlung gegenüber anderen bevorzugt werden.
Doch die Auswirkungen der Corona-Pandemie, insbesondere des Lockdowns sind derart gravierend, „dass die Pandemie auch mittel- und langfristig zu mehr Ungleichheit, Ausgrenzung, Diskriminierung und Arbeitslosigkeit führen könnte“. Zum Beispiel dadurch, dass finanzielle Mittel verstärkt in den wirtschaftlichen Aufbau gesteckt werden, dadurch aber aus anderen wichtigen Bereichen wie dem Schutz der Menschenrechte und der humanitären Hilfe abgezogen werden. Global gesehen werden Entwicklungsländer davon empfindlich betroffen sein, ist die Einschätzung der WHR-Gründerin. Die Corona-Pandemie wird die Arbeit von WHR auch langfristig verändern. Beispielsweise wird bereits jetzt überlegt, wie alleinstehende und alleinerziehende Frauen auch nach der Krise künftig stärker wirtschaftlich gefördert werden könnten und wie man sie auf künftige Krisensituationen besser vorbereitet kann. Dazu wird WHR eine geschlechtsspezifische Analyse der COVID-19-Auswikungen erstellen, aus der entsprechende Konsequenzen gezogen werden können.
Um all die Aufgaben zu bewältigen, ist Lily Thapa derzeit unermüdlich im Einsatz. Dank ihres Charismas und ihrer Expertise wird auch in den nepalesischen Medien regelmäßig über ihr Engagement berichtet. Darüber hinaus ist sie Mitglied im Think-Tank-Komitee des nepalesischen „Ministry of Women, Children and Social Welfare“. „Women for Human Rights“ hat Lily Thapa vor rund 25 Jahren gegründet. Sie hat selbst erfahren, was es heißt, in der nepalesischen Gesellschaft eine alleinstehende Frau zu sein. Sie war erst 29 Jahre alt, als ihr Mann starb – und mit ihm ihre gesellschaftliche Stellung und Anerkennung. Auf der WHR-Website erfahren Sie mehr über die Geschichte und Erfolge der ZFD-Partnerorganisation. Über aktuelle Aktivitäten während der Corona-Krise können Sie sich auf dem Facebook-Profil der Non-Profit-Organisation informieren.
Fotos: Women for Human Rights