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Ukraine: Zwischen Schulglocke und Luftalarm
29.04.2025Friedensbildung an ukrainischen Schulen in Zeiten des Krieges: 28 Schulen in der Ukraine nehmen am „Peaceful School“-Programm teil, um für einen sicheren Alltag und konstruktiven Umgang mit Konflikten zu sorgen. Unterstützt wird das Programm vom ZFD-Träger Pro Peace. Doch der Alltag des Krieges holt Schüler*innen und Lehrkräfte immer wieder ein.
Drei zermürbende Jahre Krieg haben die Menschen in der Ukraine erschöpft. Als die russischen Truppen im Februar 2022 in die Ukraine einfielen gehörte Ripky im Oblast Tschernihiw zu den ersten Orten, die mehrere Wochen lang unter Besatzung gerieten. „Es war schrecklich“, erinnert sich Schulpsychologin Inna Kajuk von der Gesamtschule in Ripky. „Wir konnten unsere Familien und Freunde nicht verständigen, denn die Russen standen überall mit Panzern und Waffen.“
Für die Lehrkräfte und Psycholog*innen bedeute der Krieg viel mehr Arbeit als früher. Die Schule wird von 483 Kindern und Jugendlichen besucht, die mit den Gefahren des Krieges, den damit verbundenen Ängsten und der ständigen Unsicherheit umgehen müssen. Die Jüngsten sind erst sechs Jahre alt. „Alle Probleme, die es bereits gab, wurden durch den Krieg verstärkt“, sagt Kajuk. Mobbing und Ausgrenzung gibt es immer noch, aber dazu kommen traumatisierte Kinder aus den stark umkämpften Gebieten wie Luhansk und Donezk, die auf Lärm und Sirenen stark reagieren. Insgesamt seien alle Schüler*innen oft aggressiv und impulsiv oder ziehen sich zurück.
Mediation und Konfliktbearbeitung in der Schule
Zusammen mit fünf weiteren Lehrerinnen implementiert Kajuk das „Peaceful School“-Modell, das seit 2019 in Zusammenarbeit mit dem ZFD-Träger Pro Peace und anderen Partnern gewaltfreie Konfliktbearbeitungsstrategien an mittlerweile 28 Schulen fördert. Durch Gespräche und Mediation sollen Konflikte zwischen den Schüler*innen geschlichtet, für Empathie und ein sicheres Umfeld gesorgt werden.
Das Konzept der „Peaceful School“ ist heute wichtiger denn je, sagt Schulpsychologin Olena Pintschuk. „Gerade jetzt brauchen die Kinder und Jugendlichen mehr Vertrauen zu den Lehrer*innen, denn die Verwandten schauen daheim die schrecklichen Nachrichten oder sind selbst im Krieg, und all das wirkt sich auf die Kinder aus.“ Ratschläge, Freundschaften und manchmal eine Umarmung – darauf komme es an, so die 45-Jährige.
Drei Jahre Krieg haben überall ihre Spuren hinterlassen. Im Schulgebäude gibt es aufgrund der gezielten russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur keinen Strom. Nur der Schutzkeller wurde mittlerweile sorgfältig saniert und ausgestattet mit Schulbänken und Sesseln, einer kleinen Kantine, einem IT-Raum, und einem Stromgenerator.
„Die Besatzung war die schlimmste Zeit für uns“, sagt Kajuk. „Nach der Okkupation waren die Kinder nicht mehr dieselben.“ Manche hatten Angst, das Haus zu verlassen, die Isolation hat ihnen zugesetzt. „Sie brauchten unsere Unterstützung, weil sie Panikattacken oder Angst vor anderen Kindern hatten, vor Menschenmengen.“
Kinder helfen einander
Mindestens genauso wichtig wie die professionelle Unterstützung durch Schulpsycholog*innen ist der Peer-to-Peer-Ansatz, den „Peaceful School“ ebenfalls verfolgt. Schüler*innen konnten sich freiwillig melden und selbst zu Mediator*innen werden. Einer von ihnen ist Danilo „Ich merke, dass es öfter Streit gibt, dass die anderen lauter sind als sonst, dass geflucht, geschubst und hinter dem Rücken geredet wird“, sagt der 13-Jährige. „Ich wollte einfach, dass sich das ändert. Vielleicht hat es etwas mit den Hormonen zu tun, oder dass alle ständig nervös sind. Aber ich glaube meistens gibt es Streit aufgrund von Missverständnissen.“
In einem leeren Klassenzimmer im dritten Stock der Schule stellt Danilo gemeinsam mit drei gleichaltrigen Schülerinnen, ebenfalls Mediatorinnen, einen Stuhlkreis auf. Dann nimmt er einen Sprechball in die Hand und wirft ihn Olena Pintschuk zu. „Wie fühlt ihr euch denn, wenn es Luftalarm gibt?“, fragt sie in die Runde. „Ich habe Kopfschmerzen und kann mich oft nicht konzentrieren und ich schlafe schlecht“, erklärt eines der Mädchen. Ängste und Panikattacken kämen leider immer öfter vor, erklärt Pintschuk. Sie zeigt der Gruppe Techniken, um sich in solchen Momenten zu beruhigen und auf die Umgebung zu besinnen.
Einmal im Monat finden solche Einheiten mit jeder Klasse statt, bei Bedarf auch öfter. In kleineren Gruppen treffen sich Schüler*innen und Psycholog*innen einmal in der Woche, um auf konkrete Probleme einzugehen. „Peaceful School“ soll dabei helfen, dass sich die Schüler*innen sicherer fühlen, mit Konflikten konstruktiv umgehen und dass die Qualität des Unterrichts verbessert wird. Doch als die Pausenglocke zum Mittagessen klingelt, heult draußen eine Sirene auf.
Wissbegierige Kinder trotz ständiger Angst
An diesem Tag schlagen keine Raketen und Drohnen in der Ortschaft ein. Doch für viele Kinder sind die Sirenen beängstigend. Eigentlich hätten sie an diesem Tag noch malen sollen, sagt die sechsjährige Anja. Sie trägt ein rosarotes T-Shirt und silber-glitzernde Sandalen. Neben ihr sitzt Warwara, ebenfalls sechs Jahre alt, ebenfalls in pink gekleidet. Die beiden Freundinnen erleben ihren vierten Schultag. Sie würden gerne schreiben und rechnen lernen. Doch jeden Tag mussten sie in den Schutzkeller. „Jetzt gerade gibt es Alarm, weil Raketen und Bomben fliegen und wir in Sicherheit müssen“, sagt Anja, während Olena Pintschuk die Tränen nicht zurückhalten kann. „Ich habe Angst, wenn ich die Sirene höre“, sagt Warwara.
Ein wichtiges Mittel für die Schüler*innen, um mit den Gefühlen umzugehen, sei Gemeinschaftssport, erklärt Pintschuk. Tennis, Judo, Leichtathletik, Boxen, Turnen, Jazztanz. Er selbst will professioneller Volleyball-Spieler werden, wenn er groß ist, sagt Danilo strahlend. Er hofft, dass der Krieg bis zu seinem Schulabschluss vorbei ist. In der Zwischenzeit halte er sich von den Nachrichten fern. „Je weniger man weiß, umso besser kann man nachts schlafen.“
Text und Foto: Daniela Prugger
Diesen Beitrag haben wir gekürzt und leicht angepasst von Pro Peace übernommen.
Das Foto zeigt die Schulpsychologin Olena Pintschuk.