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Kolumbien: Zukunft braucht Wahrheit

Vielen Menschen in Kolumbien wird der 28. Juni 2022 als historischer Tag in Erinnerung bleiben. Fast vier Jahre lang hat die Wahrheitskommission landesweit rund 30.000 Opfer sowie Täterinnen und Täter des 60 Jahre dauernden Konflikts angehört und fast 2.000 Beiträge zivilgesellschaftlicher Organisationen analysiert, um ein umfassendes Bild zur Aufarbeitung zu erstellen. „Warum hat unser Land nicht innegehalten, um die Guerillas und den Staat aufzufordern, den Krieg früher zu stoppen und einen ganzheitlichen Frieden zu verhandeln?“, fragte der Vorsitzende der Wahrheitskommission (WHK), Francisco de Roux, bei der Präsentation des Berichts. „Warum haben wir Tag für Tag die Massaker im Fernsehen gesehen wie eine billige Seifenoper?“

In zehn Kapiteln beschreibt der erschütternde Bericht die Dimension und Folgen des Konflikts, der mit schweren Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen, Kinder, Indigene, Afrokolumbianerinnen und -kolumbianer, Landlose und Homosexuelle einherging. 450.000 Menschen wurden getötet, 120.000 gelten als vermisst. 80 Prozent der Opfer waren Zivilpersonen. Rund 7,7 Millionen Menschen wurden vertrieben, mehr als 50.000 entführt, 16.000 Kinder und Jugendliche zwangsrekrutiert.

Friedensministerium gefordert

Der Bericht macht aber auch Hoffnung und enthält zahlreiche Empfehlungen an die Regierung. Unter anderem fordert die WHK, ein Ministerium für Frieden und Versöhnung einzurichten und eine Friedenskultur zu schaffen. Die WHK hat einigen zivilgesellschaftlichen Organisationen viel zu verdanken. Ohne deren langjährige Zuarbeit wäre es unmöglich gewesen, die Stimmen so vieler Opfer der Gewalt zu sammeln und zu analysieren. Als Fachkräfte des ZFD-Trägers AGIAMONDO haben Katharina Wagner und Eric Bejarano zur Wahrheitsfindung in Kolumbien beigetragen.

Die Wahrheit der Frauen

Schon lange vor Unterzeichnung des Friedensvertrags (in 2016) wusste die ZFD-Partnerorganisation Ruta Pacífica de las Mujeres um die Bedeutung der Wahrheitsfindung. Über viele Jahre sammelte die feministische Bewegung 1.000 Aussagen von Zeuginnen und übergab sie der WHK. Von Anfang an hat die Ruta Pacífica de las Mujeres darauf bestanden, eine Gender-Perspektive in die Arbeit der WHK zu integrieren, um die besondere Betroffenheit der Frauen zu berücksichtigen. Denn für sie war klar, dass die Wahrheit ohne die Stimmen der Frauen nicht vollständig ist. Für den Bericht der WHK sammelte die Organisation weitere 2.311 Zeuginnenaussagen aus den Konfliktregionen. Diese gigantische Aufgabe war nur möglich, weil sich das Frauennetzwerk schon seit 25 Jahren für Frieden und Frauenrechte einsetzt.

Katharina Wagner arbeitet seit zwei Jahren als ZFD-Fachkraft bei der Ruta Pacífica de las Mujeres. Basierend auf den Erfahrungen und dem Fachwissen des Netzwerks hat die Politologin die Empfehlungen für den Bericht der WHK ausgearbeitet. „Für die Frauen ist es unglaublich wichtig, dass sie gehört und anerkannt werden und sich in den Zeuginnenaussagen wiederfinden“, so Wagner. Die Frauen wollten aber nicht nur als Opfer dargestellt werden. Der Bericht müsse daher auch ihre Rolle als Friedensakteurinnen zeigen. Damit sich Gewalt gegen Frauen nicht wiederhole, sei es erforderlich, strukturelle Ursachen wie Rassismus und Sexismus anzugehen. Zugleich bräuchten die Überlebenden psychosoziale Angebote, betont Marina Gallego, Mitbegründerin und Koordinatorin der Ruta Pacífica de las Mujeres.

Vertrauen ist das Fundament

Auch die Interethnische Wahrheitskommission der Pazifikregion CIVP stellte 2022 ihren 4.000-seitigen Bericht vor und der WHK zur Verfügung. Es war ein langer und komplexer Prozess, der schon vor 15 Jahren mit der Einrichtung einer permanenten Beobachtungsstelle begann, die die Toten, Verschwundenen und Vertriebenen in der Region registrierte.

ZFD-Fachkraft Eric Bejarano hat die letzten drei Jahre die Wahrheitsfindung im kolumbianischen Pazifikraum unterstützt und einen Teil des Berichts verfasst. Der Wissenschaftler reiste entlang der Flüsse in die abgelegenen Dörfer, um mit den Menschen über die gewaltbelastete Vergangenheit zu sprechen. Dabei war und ist vor allem Angst ein Hindernis bei der Wahrheitssuche. Denn trotz des Friedensabkommens sind weiterhin illegale bewaffnete Akteure präsent. „Vertrauen war das Fundament unserer Arbeit“, sagt Bejarano. „Dies hatten wir dank der Unterstützung und langjährigen Arbeit der Coordinación Regional del Pacífico Colombiano (CRPC), die sich für die Rechte der indigenen und afrokolumbianischen Bevölkerung im Pazifikraum einsetzt.“

Versöhnung braucht Zeit

Im August 2022 endete das Mandat der WHK. Ein Komitee aus anerkannten Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern, darunter auch Marina Gallego von Ruta Pacífica de las Mujeres, soll die Umsetzung der Empfehlungen verfolgen. Gallego betont, dass die kolumbianische Gesellschaft die Wirkungen in zwei bis drei Jahrzehnten sehen wird: „Versöhnung braucht viel Zeit.”


Text: Bianca Bauer, Angelika Söhne
Foto: Ruta Pacifica de las Mujeres, Quibdó/Kolumbien

Das Bild zeigt Frauen, die an Interviews der ZFD-Partnerorganisation Ruta Pacífica de las Mujeres mitgewirkt haben. Es wurde über Wahrheit, Justiz, Wiedergutmachung und ein Ende der Gewalt gesprochen.

Diesen Beitrag lesen Sie in voller Länge im Magazin contacts 2/2022 (S. 1415) des ZFD-Trägers AGIAMONDO. Für unsere Website wurde er leicht überarbeitet.

Weitere Informationen zum Engagement des ZFD in Kolumbien finden Sie auch in unseren Dossier zum Thema Prävention (2017) und in unserem Factsheet aus der Reihe FRIEDEN KANN (2019).