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Corona-Pandemie: Gesundheit vs. Menschenrechte?

Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, sind gegenwärtig Maßnahmen erforderlich, die einen erheblichen Eingriff in die Grund- und Menschenrechte bedeuten. Daran gibt es grundsätzlich wenig zu rütteln. Und doch ist es wichtig, daran zu erinnern, dass jede Einschränkung wohlüberlegt sein muss. Vorbeugung darf nicht zulasten der Menschen gehen. Die Einschränkungen dürfen nicht von Dauer sein. Die Partner des ZFD nehmen in diesen Zeiten einmal mehr die Rolle eines Wächters der Menschenrechte ein wie Beispiele aus Bolivien und Mexiko zeigen.

„COVID-19 ist ein Test für unsere Gesellschaften, und wir alle lernen und passen uns an, wenn wir auf das Virus reagieren. Die Würde und die Rechte des Menschen müssen bei diesen Bemühungen von Anfang an im Mittelpunkt stehen, nicht erst im Nachhinein“, mahnt Michelle Bachelet, die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, nicht ohne Grund. Wenn es darum geht, beschlossene Präventionsmaßnahmen zur Ausbreitung des Coronavirus Sars-CoV-2 umzusetzen und zu kontrollieren, mangelt es mitunter an Verhältnismäßigkeit. Mancherorts wird die Situation sogar dazu missbraucht, die Handlungsspielräume von Presse und Zivilgesellschaft weiter einzuschränken. Etwa dann, wenn nicht nur die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit außer Kraft gesetzt werden, sondern jegliche Kritik an den angeordneten Maßnahmen durch Strafandrohung unterbunden wird.

Heute stellen wir zwei Partnerorganisationen aus Lateinamerika vor, die in der gegenwärtigen Lage wichtige gesundheitliche Aufklärung leisten. Gleichzeitig setzen sie sich dafür ein, dass die von staatlicher Seite angeordneten Präventionsmaßnahmen verhältnismäßig bleiben und jene Bevölkerungsgruppen, die unter den Einschränkungen besonders leiden, ausgleichende Unterstützung erfahren. Denn die geltenden Ausgangssperren bedeuten für viele, insbesondere im informellen Sektor arbeitende Menschen den Verlust der täglichen Einnahmen. Staatliche Sozialleistungen erreichen die Betroffenen häufig nicht rechtzeitig oder schlimmstenfalls gar nicht. Die oftmals beengten Wohnverhältnisse erhöhen den psychischen Druck zusätzlich.


    Mexiko: Kritische Auseinandersetzung und psychosoziale Unterstützung

Die Menschenrechtslage ist in Mexiko so kritisch wie in kaum einem anderen Land. Menschen, die sich für Gerechtigkeit stark machen, werden eingeschüchtert, bedroht und inhaftiert. Manche werden ermordet, viele verschwinden spurlos. Mexikanische Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger (MRV) arbeiten somit unter extremer Anspannung. Die ZFD-Partnerorganisation ALUNA unterstützt sie dabei, ihr Engagement trotz der ständigen Bedrohung aufrechtzuerhalten. Die 2013 gegründete Nichtregierungsorganisation bietet zivilgesellschaftlichen Organisationen, Journalistinnen und Journalisten wie auch Gemeinden, die im Kontext von Gewalt und Bedrohung arbeiten, psychosoziale Unterstützung an, damit sie mit der Belastung besser umgehen und sich wirkungsvoller schützen können. „Die Corona-Pandemie verschärft die Lage für MRV zusätzlich“, erläutert Clemencia Correa, die Leiterin von ALUNA, die gegenwärtige Lage. „Sie erleben nicht nur eine stärkere Gefährdung ihrer Arbeit, sie sind zusätzlich in ihrer Mobilität eingeschränkt, ihre Bemühungen sind weniger sichtbar, eine wachsende Militarisierung greift im öffentlichen Leben um sich und die Einforderung von Rechten wird zunehmend erschwert. All dies schafft ein Umfeld erhöhter Verletzbarkeit.

Zugleich beobachten die Mitarbeitenden von ALUNA auch ein gestiegenes Maß an psychosozialer Belastung durch die Pandemie und die eingeleiteten Präventionsmaßnahmen innerhalb der Bevölkerung, vor allem bei besonders gefährdeten Gruppen. „Auch wenn das Coronavirus biologisch gesehen alle Menschen gleich stark gefährdet“, sagt Clemencia Correa, „sind Risiken und Gefahren verschieden verteilt; sie sind höher bei vulnerablen Bevölkerungsgruppen wie zum Beispiel bei sozial Benachteiligten, Angehörigen der ländlichen Bevölkerung, Migrantinnen und Migranten, Angehörigen der LSBTI, bei Frauen, die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt wurden, etc.“ ALUNA macht daher verstärkt auf die psychosozialen Auswirkungen der Pandemie aufmerksam – über die eigenen Kanäle, aber auch durch Teilnahme an (virtuellen) Konferenzen und Beiträge in anderen Medien.

Auf der ALUNA-Website wurde ein neuer Bereich zur Corona-Pandemie eingerichtet, in dem eigene Beiträge veröffentlicht und Beiträge anderer verlinkt werden. Dabei geht es einerseits darum zu informieren sowie Schutzmaßnahmen und Wege der Bewältigung vorzustellen. Es geht aber auch darum, eine kritische Auseinandersetzung über den Umgang mit dem Coronavirus und den angeordneten Maßnahmen anzustoßen. „Wir müssen darauf achten, dass die gesellschaftlichen Kontrollmaßnahmen zur Eindämmung von Infektionen nicht zur neuen Normalität werden“, sieht sich Clemencia Correa in der Pflicht. „Wenn sich die mediale Aufmerksamkeit und die Maßnahmen des Staates primär auf die Pandemie richten, dürfen wir erst recht nicht darauf verzichten, auf Menschenrechtsverletzungen sowie auf Aggressionen gegen MRV und Journalistinnen und Journalisten aufmerksam zu machen, deren Erfolge und Kämpfe wir ebenfalls nicht vernachlässigen dürfen.“

Das ALUNA-Webportal zu COVID-19 mit zahlreichen Infos auf Spanisch erreichen Sie über folgenden Link: www.alunapsicosocial.org/covid-19


     Bolivien: Mutig und multimedial für Gesundheit und Menschenrechte

Bolivien befindet sich seit der Präsidentschafts- und Parlamentswahl im Oktober 2019 in einer kritischen Übergangsphase. Wegen Unregelmäßigkeiten kam es zu anhaltenden Protesten, in deren Folge Staatspräsident Evo Morales zurücktreten musste. Die für den 3. Mai 2020 vorgesehenen Neuwahlen wurden aufgrund der Corona-Pandemie auf ungewisse Zeit verschoben. Seit 22. März 2020 gilt eine landesweite Ausgangssperre. Wer dagegen verstößt, riskiert eine Festnahme und eine hohe Geldstrafe. Aber auch wer sich allzu kritisch gegen die beschlossenen Maßnahmen äußert, könnte Gefahr laufen, mit einer Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren belangt zu werden – so zumindest die Einschätzung von Human Rights Watch. Die ZFD-Partnerorganisation FOCAPACI lässt sich davon nicht einschüchtern. Gemeinsam mit 17 weiteren Nichtregierungsorganisationen hat sie die Übergangsregierung in einem offenen Brief aufgefordert, die verwundbarsten Gruppen der Gesellschaft wie etwa die indigene Bevölkerung, Kinder und Jugendliche, von Gewalt betroffene Frauen und Menschen mit Behinderungen während der andauernden Ausgangssperre besser zu unterstützen. Darüber hinaus fordern sie einen Dialog zwischen Politik und Zivilgesellschaft, der unter anderem gewährleisten soll, dass die Menschenrechte auch während der Corona-Krise gewahrt bleiben.

Das „Centro de Formación y Capacitación para Ia Participación Ciudadana“, wie FOCAPACI mit vollem Namen heißt (auf Deutsch in etwa „Ausbildungszentrum für Bürgerbeteiligung“), ist in Boliviens zweitgrößter Stadt El Alto angesiedelt. In der rasant wachsenden Millionenstadt – vor den Toren des Regierungssitzes La Paz – arbeiten rund 70 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner im informellen Sektor. Die Lebens- und Wohnsituation ist in vielen Stadtvierteln kritisch. Die Ausgangssperre trifft die meisten Menschen in El Alto daher mit voller Wucht. FOCAPACI hat früh auf die Herausforderungen der Corona-Pandemie reagiert und Ende März eine erste Handreichung mit wesentlichen Infos veröffentlicht. Seitdem stellen die Mitarbeitenden von FOCAPACI kontinuierlich Informationen über die organisationseigenen Social-Media-Kanäle bereit, insbesondere via Facebook und Youtube. So werden beispielsweise kurze Aufklärungsfilme produziert, die auf Spanisch und Aymara, der in der Projektregion am häufigsten gesprochenen indigenen Sprache, verfügbar sind.

Doch das Medium der Stunde ist das Radio, da ein Internetanschluss für viele nicht erschwinglich ist. FOCAPACI betreibt seit Februar eine wöchentliche Radiosendung, die sogenannte „Nachbarschaftsversammlung“ („Asamblea Vecinal“). Derzeit ist das vorherrschende Thema die Corona-Pandemie. „Das Radioprogramm möchte einerseits darüber informieren, wie man sich vor COVID-19 schützen kann, und andererseits reflektieren, welche Auswirkungen die Quarantäne auf das Leben der Menschen hat“, erläutert Geschäftsführer Rolando Lazarte die Ziele der Sendung. „Dazu werden auch Stimmen aus der Nachbarschaft gehört, darunter Künstler, Psychologen und Umweltschützer, die neben den Schwierigkeiten auch die positiven Aspekte der gegenwärtigen Situation aufzeigen, wie beispielsweise die nachbarschaftliche Solidarität und die Bemühungen zur Unterstützung sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen.“

ZFD-Fachkraft Esther Henning, die FOCAPACI seit Oktober 2019 unterstützt, hat sich bewusst dafür entschieden, auch während dieser schwierigen Zeit in Bolivien zu bleiben: „Um in Bolivien anzukommen und das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, erscheint es mir wichtig, auch schwierige Momente an der Seite der Partner auszuhalten. Durch das Angst- und Konfliktpotenzial der Corona-Pandemie verändern sich das Umfeld, in dem wir Friedensarbeit leisten, und die Prioritäten unserer Zielgruppen. Um darauf in den kommenden Wochen reagieren zu können, erscheint es mir angebracht, die Situation aus nächster Nähe zu beobachten.“ Neben ihrer Arbeit im Zivilen Friedensdienst engagiert sich die diplomierte Regionalwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Lateinamerika gegenwärtig auch ehrenamtlich, um die am stärksten betroffen Familien unbürokratisch mit Lebensmitteln zu versorgen.

Die FOCAPACI-Radiosendung „Asamblea Vecinal“ („Nachbarschaftsversammlung“) wird donnerstags zwischen 15:30 und 17:00 Uhr ausgestrahlt und kann auch online verfolgt werden (ab 21:30 Uhr deutscher Zeit).


Abbildungen + Fotos: FOCAPACI + ALUNA; Foto La Paz: Esther Henning