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Beobachtungsmission SOS Kolumbien

Die Ankündigung umfangreicher Steuerreformen, die vor allem Geringverdienende belasten, waren im Frühjahr 2021 der Auslöser für landesweite Streiks und Massenproteste von Gewerkschaften, Studierenden und anderen gesellschaftlichen Gruppen in Kolumbien. Auch Jugendliche aus marginalisierten Vierteln schlossen sich den Demonstrationen an. Sie forderten besseren Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung sowie Arbeit und wurden zu zentralen Protagonistinnen und Protagonisten der Proteste. Dabei kam es kam es zu Menschenrechtsverletzungen und massiver Gewalt gegen die Demonstrierenden.

Im Juli 2021 nahmen neben Vertreterinnen und Vertretern des Vatikans, von Parlamenten, Universitäten und Nichtregierungsorganisationen auch Friedensaktivistinnen und -aktivisten, Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger und Medienschaffende aus Mexiko an der internationalen Beobachtungsmission SOS Kolumbien teil. Gemeinsam mit Delegierten aus elf Ländern Europas und Amerikas bereisten sie elf Regionen. Sie nahmen Zeugenberichte auf von Betroffenen der extrem gewaltsamen Einsätze der Sicherheitskräfte und zivil gekleideter Bewaffneter. Zudem sprachen sie mit Vertreterinnen und Vertretern staatlicher Instanzen und trafen sich mit lokalen Organisationen.

ZFD-Partner aus Mexiko unterstützen die Dokumentation

Die mexikanische Delegation wurde von den Nichtregierungsorganisationen Aluna Acompañamiento Psicosocial, Serapaz und Consorcio para el Diálogo Parlamentario y la Equidad Oaxaca organisiert. Die Organisationen sind Partner des Zivilen Friedensdienstes von Brot für die Welt und verfügen über langjährige Erfahrung in der psychosozialen Begleitung, Konfliktbearbeitung und Menschenrechtsarbeit. Kolumbianische Menschenrechtsorganisationen hatten die mexikanischen Kolleginnen und Kollegen eingeladen, sie mit ihrer Expertise und dem Blick von außen bei der Analyse zu unterstützen und gemeinsam mit den anderen internationalen Delegierten die eskalierte Situation zu dokumentieren. Es lagen Berichte von tausenden Verletzten, zahlreichen Fällen von Verschwundenen und Toten, Folter, willkürlichen Verhaftungen sowie dem Einsatz tödlicher Munition gegen Demonstrierende vor.

„Wir haben ein koordiniertes Vorgehen beobachtet, angefangen von der Regierungsebene über die Provinzen und die meisten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Dabei geht es nicht nur um die Repression der Polizei, deren Spezialeinheit ESMAD und des Militärs, sondern auch um zivile Instanzen. So hat die Ombudsstelle für Menschenrechte, die in anderen Situationen Dialogräume schaffte, in diesem Fall nicht einmal unvoreingenommen Anzeigen von Menschenrechtsverletzungen aufgenommen“, berichtet Aluna-Direktorin und Psychologin Clemencia Correa. „Hinzu kommt, dass der seit Langem auf dem Land existierende uniformierte Paramilitarismus in neuer Form in Erscheinung trat. Zivil gekleidete bewaffnete Personen gingen in den Städten gemeinsam mit staatlichen Sicherheitskräften gegen protestierende Jugendliche vor und ermordeten sie.“

In ihrem Abschlussbericht kommt die Delegation zu dem Schluss, dass Kolumbien sich in einer humanitären und menschenrechtlichen Krise befindet. Das Dokument analysiert, wer beteiligt ist, beschreibt schwere Menschenrechtsverletzungen, benennt Verantwortliche und stellt unzureichende Untersuchungen und fehlende Strafverfolgung durch die Justiz fest. Ein zentraler Kritikpunkt sind die Praktiken der polizeilichen Spezialeinheit ESMAD. Die Delegierten stellten nicht nur den unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt fest, sondern auch die Anwendung von Kriegstaktiken gegen die protestierende Bevölkerung. Sie fordern eine Aufarbeitung der systematischen Menschenrechtsverletzungen und wenden sich mit sechs zentralen Empfehlungen und zahlreichen konkreten Vorschlägen an die kolumbianische Regierung sowie die internationale Gemeinschaft.

So werden für Betroffene Gerechtigkeit, integrale Wiedergutmachung sowie Garantien der Nicht-Wiederholung gefordert. Ebenso Ermittlungen zur Aufklärung der Verbrechen durch eine unabhängige Kommission. Die Spezialeinheit ESMAD soll abgeschafft, der Polizeiapparat demilitarisiert und reformiert werden. Die Regierung soll im ganzen Land mit den an den Protesten beteiligten gesellschaftlichen Akteuren verbindliche Dialoge führen. Dabei soll auch über die strukturellen Ursachen der Streiks gesprochen werden und die Notwendigkeit, marginalisierten Jugendlichen Zugang zu Bildung, Arbeit und einem würdigen Leben zu garantieren. Die internationale Gemeinschaft ist aufgefordert, das Recht auf Versammlungs- und Informationsfreiheit zu beobachten, die Europäische Union und die Vereinigten Staaten sollen die Lieferung von Waffen nach Kolumbien stoppen.

Ähnliche Dynamiken der Gewalt

Clemencia Correa reflektiert die Ergebnisse der Reise für die Friedensarbeit in Mexiko: „Die Gewaltverhältnisse in Kolumbien zu verstehen hilft uns auch dabei, unsere Analyse der Gewalt in Mexiko zu schärfen. Es gibt Unterschiede, besonders da die Politik der derzeitigen mexikanischen Regierung nicht von einem repressiven Kurs gegen Proteste geprägt ist. Jedoch beobachten wir ähnliche Dynamiken beim Vorgehen von Gruppen der organisierten Kriminalität, die zum Beispiel gemeinsam mit Unternehmen gegen Menschen vorgehen, die ihre Territorien verteidigen.“

Die mexikanischen Delegierten und ZFD-Partnerorganisationen sind mit Organisationen und Personen aus Kolumbien weiterhin in engem Austausch. Auch nach Ende der Streiks bleibt die Lage in Kolumbien angespannt. Vereinbarungen des vor fünf Jahren unterzeichneten Friedensabkommens zwischen der Regierung und der damaligen FARC-Guerilla wurden bis heute nicht umgesetzt. Es geht unter anderem um die Umsetzung fundamentaler Rechte in Bezug auf Land und Landnutzung sowie die Aufarbeitung und Eindämmung von Gewalt. Indigene und soziale Aktivistinnen und Aktivisten, die sich für den Schutz ihrer Territorien, Umwelt und Menschenrechte einsetzen, leben in großer Gefahr. Allein im vergangenen Jahr wurden über 200 Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger und Personen, die das Friedensabkommen unterzeichnet haben, ermordet oder sind verschwunden.

Als nächstes plant die mexikanische Delegation Dialoge mit Vertreterinnen und Vertretern des Außenministeriums sowie der kolumbianischen Botschaft in Mexiko und wird die zentralen Empfehlungen vorstellen.


Text: Kristin Gebhardt, Koordinatorin Programm Ziviler Friedensdienst Mexiko - Brot für die Welt

Bild: Misión SOS Colombia

Ein ausführliches Interview mit Clemencia Correa über die Beobachtungsmission SOS Colombia finden Sie auf Deutsch in der ila 448. Die spanische Fassung des oben erwähnten Berichts können Sie sich hier herunterladen. In Kürze erscheint der Bericht auf Englisch. Auch im Blog von Wolfgang Seiss, Referent für den Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger und „Shrinking space“ bei Brot für die Welt, finden Sie Texte zur Beobachtungsmission und Kolumbien.

Weitere Informationen zum Engagement des ZFD in Kolumbien finden Sie auch in unseren Dossier zum Thema Prävention (2017) und in unserem Factsheet (2019).