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Mexiko: Bis sie gefunden werden!

Tita Radilla sucht ihren Vater. Seit über 44 Jahren. 1974 verschwand er spurlos. Besser gesagt, er wurde – aller Wahrscheinlichkeit nach – aus dem Weg geräumt. Sein genaues Schicksal ist bis heute ungeklärt. So wie das von über vierzigtausend Menschen auch. Tita Radilla sucht ihren Vater – und Gerechtigkeit für sich und für die vielen anderen Opfer und Hinterbliebenen. Aus diesem Grund leben sie in ständiger Gefahr. Und aus diesem Grund steht der ZFD Organisationen wie AFADEM zur Seite.

Tita Radilla ist Vizepräsidentin der ZFD-Partnerorganisation AFADEM (Asociación de Familiares de Detenidos, Desaparecidos y Víctimas de Violaciones a los Derechos Humanos en México*). Die zivilgesellschaftliche Organisation setzt sich seit 1978 dafür ein, dass die Fälle des erzwungenen Verschwindenlassens aufgeklärt und gerichtlich verfolgt werden. AFADEM befasst sich mit 160 Fällen, von denen 110 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen sind. Außerdem arbeitet AFADEM daran, die „menschlichen Überreste“ der Opfer zu finden. Mehrfach konnten Tita Radilla und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter bewirken, dass Ausgrabungen an Orten mit mutmaßlichen Massengräbern durchgeführt werden.

Zuletzt fand von März bis April 2019 auf dem Gelände des ehemaligen Militärstützpunktes Atoyac de Álvarez im Südwesten Mexikos eine Ausgrabung statt. Hier wurde auch Rosendo Radilla, der Vater von Tita Radilla, zuletzt gesehen. Am 25. August 1974 wurde der damals Sechzigjährige an einem Militärcheckpoint in der Stadt im Bundesstaat Guerrero verhaftet. Seitdem fehlt von ihm jede Spur. Auch wenn dies nicht die erste Ausgrabung auf dem Gelände war, ist die Hoffnung groß. Denn zum ersten Mal wurde bis zu einer Tiefe von vier Metern und an Orten, die von Zeuginnen und Zeugen als Massengräber mit bis zu 100 Leichen identifiziert wurden, gegraben. Bislang gibt es jedoch noch keine offiziellen Verlautbarungen, welche Ergebnisse die nunmehr sechste Maßnahme auf dem ehemaligen Militärgebiet in Atoyac de Álvarez gebracht hat.

Dass es überhaupt zu derartigen Suchaktionen kommt, ist in hohem Maße der unermüdlichen Arbeit von Tita Radilla und AFADEM zu verdanken. Sie und ihre Geschwister begannen unmittelbar nach dem Verschwinden ihres Vaters mit der Suche nach ihm. Dabei stießen sie auf zahlreiche Hindernisse. Lange Zeit waren sie und andere Hinterbliebene weitgehend auf sich allein gestellt. Nach wie vor sind sie immer wieder Bedrohungen ausgesetzt, weshalb ihnen seit 2003 der ZFD beiseite steht.

2001 reichte die Familie Radilla ihren Fall zusammen mit AFADEM und der mexikanischen „Kommission für die Verteidigung und Förderung der Menschenrechte“ (CMDPDH) bei der „Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte“ (IACHR) ein, da bei den mexikanischen Behörden zu wenig Verantwortung und aktives Handeln zu beobachten war. Da auch die Empfehlungen der IACHR an den mexikanischen Staat nicht erfüllt wurden, wurde der Fall vor dem „Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte“ erörtert.

Im November 2009 kam es zu einem Urteil von historischer Bedeutung: Der mexikanische Staat wurde der Verbrechen des Verschwindenlassens für schuldig befunden und aufgefordert, die Verbrechen zu untersuchen, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen und eine Entschädigung an die Hinterbliebenen zu zahlen sowie sicherzustellen, dass sich derartige Verbrechen nicht wiederholen. Die Mitglieder von AFADEM werden nicht aufhören, den Staat an seine Pflicht zu erinnern. Getreu ihrem Motto: ¡Hasta encontrarlos! (Bis sie gefunden werden!)

Mehr über das Engagement von AFADEM, auch welchen Gefahren ihre Mitglieder ausgesetzt sind, erfahren Sie auf der englisch- und spanischsprachigen Internetseite von pbi Mexiko. Dort finden Sie auch ein Interview mit Tita Radilla von 2010 (als PDF, auf Englisch).


Die Menschenrechtslage in Mexiko ist prekär. Seitdem der ehemalige Präsident Felipe Calderón den Drogenkartellen 2006 den Krieg erklärte, versinkt das Land in einem Strudel der Gewalt. Mehr als 250.000 Menschen haben in Folge dieses „Krieges“ ihr Leben verloren. Auch Konflikte um Ressourcen und Macht führen immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung, auch in der Strafjustiz. Ein Großteil der in Mexiko begangenen Straftaten wird zudem juristisch nicht verfolgt. Die allgegenwärtige Kultur der Straflosigkeit hat verheerende Folgen für die Arbeit von Menschen, die sich für Gerechtigkeit und Recht stark machen. Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger untersuchen die Schicksale von Verschwundenen. Sie kämpfen gegen Landenteignungen und setzen sich dafür ein, dass Straftaten vor Gericht kommen. Dafür werden sie bedroht, illegal verhaftet, gefoltert und ermordet. Viele verschwinden spurlos. Menschenrechtsarbeit in Mexiko ist lebensgefährlich.


*Vereinigung der Angehörigen der Inhaftierten, Verschwundenen und Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Mexiko

Foto: peace brigades international